Grosse Gefühle, unterkühlt

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (19.10.2009)

Madama Butterfly, 17.10.2009, Zürich

Puccinis «Butterfly» mit szenischen Defiziten im Zürcher Opernhaus.

Eines kann man der Neuinszenierung von Giacomo Puccinis «Madama Butterfly» im Opernhaus Zürich nicht vorwerfen: Sie sei eine jener zahlreichen Produktionen aus dem Durchlauferhitzer permanenter Repertoire-Erneuerung. Obwohl die Tragödie der um ihre Liebe und Hoffnung betrogenen kleinen Japanerin zu den beliebtesten Werken der Opernliteratur zählt, ist sie seit Joachim Herz' denkwürdiger Inszenierung von 1986/87 – mit der ebenso denkwürdigen Yoko Watanabe in der Titelrolle – in Zürich nicht mehr neu erarbeitet worden. Trotzdem bleibt nach der Premiere fraglich, ob diese neue «Butterfly» in dieser Besetzungskonstellation nötig gewesen sei.

Krude Phantastik

Dass die Zürcher Neuproduktion von heute stammt, heutiges ästhetisches Instrumentarium verwendet, wird allerdings auf den ersten Blick ersichtlich. Die stimmungshaften Videofilme zum Vorspiel und in den Zwischenakten – produziert von Hamburger Design-Studierenden – und die sachlich-kühle Architektur des vom amerikanischen Marineoffizier Pinkerton für seine japanische Ehe auf Zeit gemieteten Hauses situieren die Handlung klar in der Gegenwart. Indessen hat Reinhard von der Thannen nicht nur das Bühnenbild entworfen, sondern auch die Kostüme, und das bedeutet einmal mehr: krude Phantastik.
Wunderschön ist zwar der bestickte schwarze Kimono der Dienerin Suzuki, die dank Judith Schmids sattem, ausdrucksvollem Mezzosopran auch sängerisch zu einem Lichtblick der Aufführung wird. Und der weisse Kimono der Cio-Cio-San, der tadellos sitzende helle westliche Anzug Pinkertons sowie der im Kolonialstil geschneiderte des Konsuls Sharpless (der auch sängerisch untadelige Cheyne Davidson) schmeicheln dem Auge kaum minder. Doch daneben: Masken, Schminke, grotesk verzerrte Gestalten wie der schmierige Kuppler Goro, der Guru-hafte Onkel Bonze – er verflucht Cio-Cio-San wegen ihres Glaubensverrats –, der in pompösem Goldgewand um die verarmte Butterfly werbende Fürst Yamadori, und immer wieder jene vier kalkweissen Männer, die auf dem Besetzungszettel als Butoh-Darsteller figurieren, sich aber auch als Kulissenschieber und Sänftenträger betätigen.

Sie alle agieren in einem Bühnenraum, der zwar ein Zentrum in Form eines Turmes mit Wendeltreppe hat, der aber schwer überblickbar ist, so dass sich das Geschehen auf verschiedene Schauplätze verteilt (das Bett mit der Madonnenstatuette gibt es sogar in doppelter Ausführung). Hier «Madama Butterfly» als Kammerspiel zu inszenieren, wie es sich der Regisseur Grischa Asagaroff vorgenommen hat und wie es die zunehmend verlassene, aus ihrer Familie und ihrem sozialen Umfeld verstossene, auch als «Amerikanerin» nicht akzeptierte Cio-Cio-San nahelegt, wäre auch mit einer Idealbesetzung schwierig – mit Neil Shicoff als Pinkerton und Xiu Wei Sun in der Titelrolle ist es unrealisierbar.

Stimmlich ist Shicoff in guter Form, seine Phrasen haben Weite, die Mittellage trägt, die hohen Töne, in gleichbleibender Lautstärke und Farbgebung, peilt er zwar mit merklichem Kraftaufwand an, aber sie sitzen. Doch darstellerisch bleibt er ein der Rolle altersmässig entwachsener Tenor, der sich zu Beginn schwärmerisch-jünglingshaft und am Ende schuldbewusst gibt. Dabei hat Puccini hier einen ganz «untenoralen», in seiner egoistischen Skrupellosigkeit und larmoyanten Feigheit negativen und daher für die damalige Zeit erstaunlich modernen Charakter gezeichnet, auch in der diesmal verwendeten, gegenüber der Erstfassung etwas positiveren Version von 1906. Die Hauptfigur jedoch ist Cio-Cio-San, und da hat das Opernhaus in der jungen Chinesin Xiu Wei Sun eine zumindest glaubwürdige, wenn auch nicht sehr facettenreiche Darstellerin verpflichtet. Sängerisch dagegen schöpft Xiu Wei Sun mit ihrem kaum modulationsfähigen, mehr Kraft als Volumen entwickelnden und in der höheren Lage zu Schärfen neigenden Sopran das Spektrum der Partie bei weitem nicht aus.

Raum für Emotionen

Sentimentalität, wie sie dem Werk oft zum Vorwurf gemacht wird, kann in dieser Aufführung jedenfalls nicht aufkommen, dafür sorgt auch der Dirigent Carlo Rizzi mit seinem straffen, den grossen Emotionen durchaus Raum gebenden, aber dem Orchester nicht das Äusserste an klanglicher Feinarbeit abverlangenden Musizieren. Aufgebessert wird die vokale Bilanz durch die Interpreten der Nebenrollen: Andreas Winkler als Goro, Pavel Daniluk als Onkel Bonze, Krešimir Stražanac als Fürst Yamadori, Margaret Chalker als Kate, Pinkertons «richtige», amerikanische Frau. Doch im zweiten und dritten Akt wird das Warten nicht nur für Cio-Cio-San, sondern auch für das Publikum lang. Und dabei kann gerade dieser Teil besonders fesselnd sein – wenn das Stück, wie derzeit am Theater Basel, nicht nur in der Bildsprache «aktualisiert», sondern mit Blick auf das vaterlose Kind Cio-Cio-Sans in unsere Zeit weitergedacht wird.