Die Verpuppung einer Oper vom süssen Kitsch zur Ernsthaftigkeit

Anna Kardos, Tages-Anzeiger (19.10.2009)

Madama Butterfly, 17.10.2009, Zürich

Das Opernhaus Zürich inszeniert Puccinis «Madama Butterfly», entschlackt von melodramatischem Dekor. Und reduziert das Werk damit auf ein Konzentrat, in dem sich Musik, Optik und Spiel verbinden.

Von Buhrufen über Pfiffe bis hin zu Grunzen - das Publikum gab sich nicht gerade zimperlich: «Vecchia stoffa» - «Altes Zeugs»! tönte es von überall, sogar während der Aufführung. Die Protagonistin brach in Tränen aus und war unfähig weiterzusingen. Das war die Premiere von Puccinis Oper «Madama Butterfly». Ein einziges grandioses Fiasko, das einen gebrochenen Komponisten hinterliess. Damals, 1904, an der Mailänder Scala. Der Misserfolg schmerzte ihn umso mehr, als er selbst «Madama Butterfly» als sein seelenvollstes und ausdrucksreichstes Werk empfand.

Alles begann 1900. Der Japonismus war jung. Puccini selbst schon in seinen Fünfzigern, als er in London völlig hingerissen das Theaterstück um eine kleine Geisha sah. Zwar verstand der Komponist kaum ein Wort Englisch, aber die Geschichte der «Madama Butterfly», die von einem amerikanischen Offizier zum Zeitvertreib geheiratet, danach verlassen wird und an der Situation zerbricht, rührte ihn zu Tränen.

Klarheit und Strenge

Mit Feuereifer betrieb Puccini Japan-Studien, machte sich an die Vertonung des Stoffs und brachte schliesslich ein Werk zustande, in welchem genauso viel «Fantasien» wie «Ostasien» steckte. Allerliebst sind all die Fächerchen, Vasen und bunten Kimonos, in denen die schönen Exotinnen lächelnd herumtrippeln. Nicht zuletzt diesem Umstand verdankt aber das Werk seine spätere Beliebtheit.

Am Samstag, über 100 Jahre nach der Uraufführung, war am Zürcher Opernhaus von all dem nicht viel zu spüren. Auch das Publikum johlte und grölte nicht mehr. Nur die Protagonistin, sie hatte auch diesmal Tränen in den Augen. Doch nicht wegen eines grausamen Publikums. Vielmehr präsentierte die Inszenierung von Grischa Asagaroff eine von melodramatischen Schlacken befreite Oper. Und verhalf ihr damit zu immenser Wucht, der sich selbst die Darsteller nicht entziehen konnten: Das einzige Kind soll Cio-Cio-San (alias Butterfly) aufgeben, betteln gehen oder wieder als Geisha arbeiten. «Wer nicht in Ehre leben kann, soll ehrenvoll sterben», so lautet der Kodex ihrer Familie. Und diesem folgt sie, ernsthaft, ohne einen Funken Hysterie.

Ernst und echt erscheint an diesem Abend einiges. Wer üppige Japonaiserien, untermalt von saccharinsüssen Streicherklängen, erwartet hatte, musste enttäuscht nach Hause gehen. Dazu hatten Regie und Bühnenbild die Hausaufgaben schlicht zu gut gemacht. Ihre Mittel waren: Klarheit, Strenge und Reduktion. Eine Reduktion allerdings auf das Maximum, bis auf ein Konzentrat, in dem sich Musik, Optik und Spiel zur kristallinen Einheit verbanden.

Im Dreigespann mit Szene und Handlung offenbarte auch die Partitur ihre theatrale Qualität. Wie naturnah waren die Konversationen, wie lebendig der Gesang! Als dramatisches Element der Handlung bediente die Musik nicht mehr bloss die pastell-pudrigen Stimmungsregister. Folgerichtig schlugen Dirigent Carlo Rizzi und das Orchester der Oper ebenfalls einen klaren Ton an. Mal trieb es die Handlung an, deutete zeichenhaft voraus oder liess gemeinsam mit dem Chor leise und innig von Vergangenem träumen.

Doch zunächst muss noch nicht geträumt werden. Erst einmal wird geheiratet. Mitten unter all den schwarzweissen Requisiten und Kostümen, die sich auf der weissen Bühne (beides von Reinhard von der Thannen) wie markante kalligrafische Pinselstriche ausnahmen, steht da Madame Butterfly in ihrem Kimono. Es ist der Tag ihrer Hochzeit mit Mister F. B. Pinkerton. Fremd sind sich die beiden, das sieht man auf Anhieb. Auf der einen Seite der joviale Pinkerton im weissen Anzug und siegesgewissem Lächeln auf den Lippen, auf der anderen die 15-jährige Geisha, deren Gestik formelhaft einstudiert wirkt und an japanische Kabuki-Tänze erinnert. Verstehen wird Pinkerton diese Gestik kaum - aber das stört ihn nicht besonders.

Neil Shicoff sang, wie Pinkerton ist: glanzvoll, kräftig, attraktiv. Zwischentöne waren nicht sein Ding, zu strahlend, zu siegesgewiss ist der Duktus. Ihm zur Seite stand Xiu Wie Sun als Butterfly. Ihre Passagen waren sanfter, geschmeidiger modelliert, das Ziel mehr Linie als glänzende Spitzentöne. Und obwohl ihre Stimme ein helles Timbre hat, steht sie an Kraft der von Shicoff um nichts nach. So fanden sich die beiden «Liebenden» wenigstens in der Musik. Doch kaum ist die Hochzeitsnacht vorbei, macht Pinkerton, flott wie er ist, einen Abgang. Aber, hey: Sogar Geld lässt er der kleinen Japanerin da. Niemand, nicht einmal sein kritischer Freund Sharpless (Cheyne Davidson überzeugte mit einer kammermusikalisch sensiblen Interpretation der Rolle) darf behaupten, er hätte sich unrecht verhalten.

Wundersame Verwandlung

Und nun beginnt ein Prozess, der vielleicht einzigartig ist in der Operngeschichte: Allein gelassen mit einem ungeborenen Kind, als Stütze nur eine Handvoll Hoffnungen und die treue Dienerin Suzuki (wunderbar warmherzig gesungen und gespielt von Judith Schmid), reift Butterfly langsam vom formelhaften Püppchen zur Frau und schliesslich zur tragischen Heldin heran. Selten macht eine Opernfigur solch eine Wandlung durch, und selten widmet ein Komponist seiner Protagonistin so viel Liebe und Aufmerksamkeit wie Puccini seiner Cio-Cio-San. Die Gesangslinien werden dramatischer, aber auch Gestik und Mimik lösen sich vom Gestelzt-Formelhaften und beginnen zu leben. Doch wie es die Operngötter so wollen: Es ist ein Leben zum Tod hin. Denn der Höhepunkt von Madama Butterflys Entwicklung besteht darin, die Grösse zu finden und einen unüberwindbaren Konflikt zu lösen, indem sie sich selbst eliminiert. Der Abend zeigte das eindrücklich und rührte damit an die Substanz hinter dem Dekor. Vielleicht klarer, als Puccini selbst das je bezweckt hatte.