Zürich ist besser als sein Ruf

N. N., Mittelland-Zeitung (19.10.2009)

Madama Butterfly, 17.10.2009, Zürich

Giacomo Puccinis «Madama Butterfly» ist kurz nach der Basler Premiere auch in Zürich zu sehen. Kann Zürich mit dem «Opernhaus des Jahres» mithalten?

So schlecht, wie nun viele tun, ist das Opernhaus Zürich nicht. War es nie. Dennoch: «Basel schlägt Zürich» titelte der «Tages-Anzeiger» letzte Woche. Der Schlag sass, war er doch von dort hergekommen, wo in den letzten zehn Jahren fast nur Wohlwollendes zum Zürcher Opernzirkus zu lesen war. Jetzt aber fehlt es plötzlich an frischen Ideen und Wagemut und man harre nur mehr der «letzten Pereira-Premieren». Der Artikel war eine Reaktion auf eine Umfrage unter 50 Kritikern, die das Theater Basel zum «Opernhaus des Jahres» gemacht hatten. Wo blieb da Zürich?

Gewiss: Die Auslastung sinkt, ist kaum mehr höher als 1991. Damals startete Alexander Pereira als Zürcher Hoffnungsträger. Doch so schlimm ist es nach 18 Jahren um das Opernhaus Zürich nicht bestellt. Immerhin wird es in der erwähnten Umfrage von drei Stimmen als «Opernhaus des Jahres» genannt – Basel von sieben. Es gibt also durchaus auch Kritiker, die sich in Zürich wohl fühlen. Und Opernbesucher zählt Zürich immer noch viel mehr als Basel (180 000 gegen 60 000).

Einiges muss im Gegensatz zu früher dafür getan werden: Man schaltet ganzseitige (!) Zeitungsinserate, lockt mit Spezialangeboten und verbessert nach langen Jahren sogar die Konditionen für Studenten. Kommen die Leute nicht mehr, klappt das kostspielige Kartenhaus Zürich zusammen.

Trotz den aufkommenden Unkenrufen steht das Opernhaus Zürich künstlerisch eher besser da als vor 10 Jahren, denn sein Orchester wird immer besser. Das zeigte auch die Neuinszenierung von «Madama Butterfly».

Aber leider ist allen klar, dass man mit einer «Butterfly»-Inszenierung von Grischa Asagaroff, dem künstlerischen Betriebsdirektor am Haus, nicht um den Titel «Inszenierung des Jahres» bzw. «Opernhaus des Jahres» mitspielt. Sie ist ein typisches Produkt des «Gemischtwarenladens Pereira»: einmal modern, einmal konventionell.

Aber war denn jene «Butterfly» in Basel vor einem Monat so viel besser? Zugegeben: Das Geschehen war verspielt in die Gegenwart gesetzt, viele Anlehnungen an TV-Soaps waren da zu sehen und Nebensächliches wurde aufgewertet. Kein Kunststück. Asagaroff geht den viel schwierigeren Weg. Er zeigt die tragische Liebe der Geisha zum amerikanischen Leutnant halb realistisch, halb abstrakt theatral.

Die Abstraktheit bewegt sich am heiklen Grat zum Kitsch, ist aber immerhin elegant ins realistische Geschehen eingebunden. Und dieser Realismus geht auf jedem Schritt einher mit der Musik: eine Kunst, auf die sich nur mehr wenige Regisseure verstehen. Da wird ein Geigenstrich zum Seelenblick, ein Aufbrausen im Orchestergraben zur todbringenden Geste. Man mag das als konventionell abtun, aber es ist es auf hohem Niveau.

Was gibt es denn in einer «Butterfly» schon zu erzählen? Eine 15-Jährige wird einem Leutnant verkauft, er vergnügt sich, liebt sie vielleicht und verlässt sie. Drei Jahre später geht der Vorhang wieder auf und Cio-Cio-San jammert 40 Minuten lang rum. Die Rückkehr des Leutnants verschläft sie. Dessen amerikanische Ehefrau nimmt der Japanerin ihr Kind. Cio-Cio-San stürzt sich ins Messer.

Wäre das Zürcher Orchester technisch nicht so gut, würde ein Dirigent wie Carlo Rizzi Schiffbruch erleiden. Da herrschen nur Wohlpoliertheit und süsse Ausgewogenheit. Man wartet sehnlichst auf einen Ausbruch. Von theatralischer Zeichnung, die die Regie unterstützen würde, kaum eine Spur.

Und bei den Sängern ists wie immer: Ein Star macht noch keinen Frühling. Aber immerhin Eindruck, selbst wenn er nicht jünger wird.

Gemeint ist Weltstar Neil Shicoff, der für seine Leistung mit für Zürcher Verhältnisse geringem Applaus abgestraft wurde. Aber gibt es denn so viele Tenöre, die Pinkertons Arie «Addio Fiorito Asil» besser singen? Tenöre, die sich leidenschaftlicher in eine Rolle stürzen? Die eine Verzweiflung so bitter in Geste und Stimme übertragen können? Gewiss: Shicoff macht vor dem Paradestück unnötigerweise aus jedem Satz ein Drama. Die feine Geste, die Andeutung, gehört nicht mehr zu seinem Repertoire. Die Stimme lässt die einstige Süsse nur noch erahnen.

Xiu Wei Sun ist in diesen Jahren die Opernwelt-Cio-Cio-San vom Dienst: Wo immer ein A-Haus Puccinis «Madama Butterfly» spielt, wird die Chinesin eingeflogen. Das hat vor allem mit ihrem Äusseren zu tun. Warum Europäer Riesen, Füchse, Vogelhändler, ja Götter, aber keine Butterfly singen können, ist uns ein Rätsel.

Von den sehr gut besetzten Nebenrollen nutzt Judith Schmid als Suzuki die Chance, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie eigentlich für Grösseres bestimmt wäre.

Zürich oder Basel? Der Augenschein anlässlich der beiden «Butterfly»-Produktionen macht aus dem 3:7 ein 4:4. Was die Sache fürs hochsubventionierte Star-Theater und sein Publikum, das für die Karten das Doppelte bezahlt, leider nicht viel besser macht.

Aber war denn jene «Madama Butterfly» in Basel vor einem Monat so viel besser als die Zürcher Produktion?