Rache ist süffig

Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt (19.10.2009)

Medea in Corinto, 17.10.2009, St. Gallen

Opernrarität
Das Theater St. Gallen hat mit der Belcanto-Oper Medea in Corinto einen guten Griff getan. Am Samstag war heftig applaudierte Premiere.

Es muss eine Herkulesarbeit gewesen sein, das weitversprengte Notenmaterial der 1813 uraufgeführten «Medea in Corinto» zu sammeln, mit Sachverstand zu sichten und daraus die neue, quellenkritische Edition zu destillieren; eine Partitur, die dem künstlerischen Willen eines Giovanni Simone Mayr vermutlich so nahe wie nur möglich kommt.

Eine weitere Heldentat ist zweifellos, für den bayrisch-italienischen Belcanto-Avantgardisten eine Bresche in Richtung Bühne zu schlagen. Ein Mozart oder Verdi auf dem Spielplan ist gewiss die sicherere Bank. Wobei das Publikum, dem Grabungseifer geistreicher Barockopern-Archäologen sei Dank, inzwischen beinahe süchtig nach Raritäten ist. Und dafür auch gern einmal von München nach St. Gallen reist.

Da muss der Stoff nicht einmal so vielversprechend hochdramatisch, so zeitlos packend und im Verlauf so klar durchschaubar sein wie die in Literatur und Kunst fleissig bewirtschaftete Ehekatastrophe von Jason und Medea. Der amerikanische Regieliebling David Alden hat an der Bayerischen Staatsoper in München schon dürftigeren Libretti zu einer ebenso spannenden wie schlüssigen szenischen Umsetzung verholfen. Galt er in seinen Anfängen an der Metropolitan Opera als zorniger Provokateur, machte er sich in Europa schnell einen Namen mit ebenso unterhaltsamen wie dramatisch dichten Inszenierungen gerade auch von Werken, auf denen sich jahrhundertelang der Staub der Archive angehäuft hatte.

Katastrophen-Humor

Insofern ist David Alden für die Restauration der Mayr'schen «Medea in Corinto» in St. Gallen genau der Richtige. Es ist ihm ernst mit der nachtschwarzen, blutigen Tragödie zweier Paare und einer entwurzelten Familie. Er ist jedoch im Gegenzug auch hellhörig genug, die lyrischen und nicht zuletzt: die heiteren Seiten des Werks mit Verve auszuspielen.

All die ironischen Gesten, mit denen Mayr vor allem die Gesellschaft von Korinth und ihren verrotteten Königshof entlarvt – als Gecken und Komödianten des Eigennutzes –, blitzen szenisch wie musikalisch auf und ergeben zusammen das Porträt einer verlogenen Gesellschaft, wie sie Mayr zwischen Revolution und Restauration erlebt haben mag. Der Chor kommt dabei prächtig zum Zuge, auch als bewegliches Szeneninventar (Choreographie: Beate Vollack, Kostüme: Jonathan Morell). Allein: auf Quellentreue und Zeitkolorit ruht sich Aldens Regie nicht aus.

Beunruhigungspotenzial verbirgt sich zum einen in perfektem Zusammenspiel mit den Akteuren im Orchestergraben unter Chefdirigent David Stern, die das Werk wie ein restauriertes Gemälde in herrlicher Leuchtkraft und mit gestochen scharfen Konturen präsentieren. Stern lässt historisch informiert musizieren, verbindet Belcanto mit transparenter Stimmführung, Expressivität mit einem Drive, der zielstrebig aus der süffigen Likörlaune der Korinther in die Katastrophe führt. Dann spart das Sinfonieorchester St. Gallen keinesfalls mit düsteren Klangballungen. Es brodelt in der Basshölle; aus Klarinettenschmelz, Harfen- und Hornromantik, den lieblichen Erinnerungen Medeas im Violinsolo ruft sich das Unheil immer unausweichlicher von den Posaunen her ins Bewusstsein.

Elend hinter Prunktapeten

Zum anderen bricht das Bühnenbild von Giles Cadle früh und konsequent die Scheinwelt der Empire-Tapeten auf. Das mag beim ersten Mal auf schnelle Lacher zielen, wenn Creonte (Wojtek Gierlach mit kernig-potentem Bariton, agil trotz seiner regiegewollten Rollstuhl-Existenz) sich zum Parlieren ein Fensterchen im monumentalen Streitwagen-Wandbild öffnet. Doch spätestens mit Medeas Auftritt vor einer Wüste ausgebombter Plattenbauten weht ein anderer Wind – bei aller Lust an der facettenreichen Partitur, die den dreistündigen Abend verlässlich in Gang hält. Hier scheut das Regieteam auch keine Schwarz-Weiss-Malerei. Amor und Pegasus werden flügellahm; Unglücksraben und Hitchcock-Vögel flattern herbei.

Alden entlockt den Sängern zu ihren reich verzierten Bravourpartien komplexe Charaktere; sogar noch einem Giasone, Weiberheld mit einer ganzen Kollektion von Goldkettchen auf der behaarten Brust. Dem hätte man nach der Superhero-Show hoch zu Ross, mit der er seinem vorauseilenden Ruf in Korinth gerecht wird, auch sängerisch nicht so viel zugetraut, wie er kurz darauf im Tête-à-tête mit der verhassten Ex verströmt.

Dabei schmiegt sich Mark Milhofers moderat heldischer Tenor mindestens so zärtlich an Elzbieta Szmytkas durch Höhen und Tiefen und alle nur denkbaren Affekte rasende, kraftvoll-flexible Medea wie an die zahmere neue Auserwählte Creusa, mit Evelyn Pollock aus dem Ensemble besetzt – die sich hinter den auswärtigen Belcanto-Spezialisten keineswegs zu verstecken braucht.

Staatsopernwürdiger Applaus

Die verschmähten Liebenden sind allerdings allemal interessantere Rollen; in diesem Punkt verhält sich Mayrs vergessenes Schwellenwerk zwischen Wiener Klassik und romantischer Belcanto-Oper durchaus regelkonform. Mögen sie freveln und scheitern und am Ende mit leeren, blutbeschmierten Händen dastehen: Medea und Egeo (der betörend timbrierte, absolut höhenfeste Lawrence Brownlee) als düpierter Bräutigam Creusas, ernten die stürmischen Bravi für ihre aufwühlende Leidens- und Racheartistik. Der üppige, staatsopernwürdige Schlussapplaus galt zweifellos nicht nur den Helden auf der Bühne.