Epochales zwischen den Epochen

Herbert Büttiker, Der Landbote (19.10.2009)

Medea in Corinto, 17.10.2009, St. Gallen

Ein spannendes Kapitel Operngeschichte wird im Theater St. Gallen aufgeschlagen: Zu entdecken ist der Komponist Giovanni Simone Mayr und dessen erstaunliches Hauptwerk «Medea in Corinto». Man möchte ihm öfters begegnen.

Von Müttern, die ihren Kindern Leid antun, ist in Zeitungsnachrichten ja auch heute nicht selten zu lesen. Die verstörende Grausamkeit hat in der mythologischen Figur der «Medea» ihr Urbild. Der griechische Dramatiker Euripides ist mit seiner Tragödie, der überlieferten Gestaltung des Stoffes im 5. Jh. v. Chr., in der Ursachenforschung weit ins moderne Denken über die Ungleichheit von Mann und Frau vorgedrungen: Medea, die Jason im «barbarischen» Kolchis zum goldenen Vlies verholfen hat und seine Frau geworden ist, sieht sich in Korinth beiseitegeschoben, als Fremde, als Last, die Jasons gesellschaftlichen Ambitionen hinderlich ist.

Die ungeheure Kränkung Medeas, ihr demütiger Versuch, die Beziehung zu retten, das Bedürfnis nach Rache und das Erschrecken, dass diese mehr fordert, als «nur» den Tod des Gehassten – all dies hat Schriftsteller und Schriftstellerinnen bis heute in unzähligen Versionen der Geschichte beschäftigt. Faszinierend facettenreich in musikalische Form gegossen ist es auch in der 1813 in Neapel uraufgeführten Oper von Giovanni Simone Mayr (1763–1844) zu finden. Seine «Medea in Corinth» war bis in die 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts weit verbreitet, Cherubinis «Medea» von 1797 mit ihrer spezifisch deutschen Rezeption zum Trotz. Sie machte ihn neben weiteren Opern wie «Lodiska», ein Lieblingswerk Napoleons, zu einem Protagonisten der beginnenden romantischen Belcanto-Epoche. Die Titelfigur der Oper war eine Paraderolle der grossen Gesangsstars der Zeit wie Maria Colbran, Giuditta Pasta.

Freihandel mit Assoziationen

Die St. Galler Bühne (Giles Cadle) verlegt das Geschehen in die Entstehungszeit des Werks. Ein Festaal im Stil des Empire und zeittypisch lang fallenden Roben der Damen ist der Ausgangspunkt einer allerdings nach vielen Seiten offenen Inszenierung zwischen Opera-seria-Barock, Gips-Klassizismus und maroden Plattenbauten der Moderne. Auch der bunte Mix bei den Kostümen ist einem assoziationsreichen und ausufernden Bilderzauber mehr verpflichtet als dem stringenten Erzählen der komplexen Geschichte, zu dem die Musik drängt.

Das Drama, mit dem Felice Romani als einer der bedeutendsten Textdichter für Bellini und Donizetti sein erstes Libretto vorlegte, fokussiert nicht einseitig auf Medea. Mit der Prinzessin Creusa und dem Athener König Egeo – ihres wegen des neuen Heiratsprojekts brüskierten ersten Verlobten – als weiteren Hauptpartien erhält die Hofwelt um König Kreon viel Raum. David Aldens Regie persifliert sie mit vordergründiger Pathologie und mechanischer Choreografie.

Das geht surreal und skurril weit über die Darstellung einer realistischen Normwelt hinaus, die dem Einbruch des «Zaubers» einer Medea ja erst so recht zur Dynamik verhelfen würde. Zudem bremst die vorherrschende Bewegung in Zeitlupe den musikalischen Schwung beträchtlich, den Mayrs Musik auszeichnet, und ein forciertes Bewegungsgeschehen der Protagonisten, das bis hin zu absurden Fesselspielen den Fokus bestimmt, macht es für die Sänger wie für den Hörer bisweilen schwer, «Belcanto» zu bieten und zu erleben.

Energievolles Ensemble

Was die Protagonisten in der Verbindung von Spiel und Gesang in anforderungsreichen vielteiligen und oft in virtuosen Steigerungen gipfelnden Gesangsszenen leisten, ist allerdings enorm, aber insgesamt berührender, wo sie empfindsame Lyrik im Mezzavoce entfalten, als wo sie der Dramatiker zum expressiven Hochdruck verführt. Mit der grossen Agilität hoher Tenöre warten Mark Milhofer (Giasone) und Lawrence Brownlee (Egeo) auf, Evelyn Pollock gibt der Creusa einiges an liebenswürdiger Ausstrahlung, während Elzbieta Szmytka als Medea mit ihrem unruhigen und verhärteten Sopran die Szene mit Ausdruckskraft von stimmlich unterschiedlicher musikalischer Güte energievoll beherrscht.

Solide Stimmen fallen in den mittleren und kleinen Partien auf, etwa diejenige von Wojtek Gierlach (Creonte) und Fiqerete Ymerai (Ismen). Mit starker Präsenz meistern auch die St. Galler Chöre ihre vielfältige Aufgabe. Eine solche kommt insbesondere auch dem Orchester zu.

Die musikgeschichtliche Rolle, die Giovanni Simone Mayr als Vermittler klassischer Instrumentalmusik aus dem Norden ins Opernitalien zugesprochen wird, bestätigt sich hier glänzend. Konzertante Sätze der Violine in den Arien Medeas, zweier Harfen in der Arie Creusas sind zu hören, es gibt grosse instrumentale Einleitungen und instrumentale Farbigkeit wie die Szene von Medeas Unterweltsbeschwörung mit ihrer Einleitung in Don-Giovanni-d-Moll und sich reibenden Dissonanzen. Die vielteilig gebauten Arien- und Duettszenen, in denen es wenig formale Wiederholung gibt, aber alles sich mit aufwendigem Orchesterrezitativ offen verbindet, zeigen das romantische Belcanto-Ideal eines Zugleichs von Stimmenkonzert und dramatischer Schlüssigkeit schon weitgehend realisiert. Unter der Leitung von David Stern musizieren Ensemble und Orchester, in dem etwa auch Hörner und Posaunen mit dunklen Farben die Szene beleuchten, eindrücklich zusammen, das besagte Ideal allerdings bleibt wohl eine noch einzulösende Aufgabe.