Spiel um unsere geheimen Sehnsüchte

Fritz Schaub, Neue Luzerner Zeitung (19.10.2009)

Die Fledermaus, 17.10.2009, Luzern

Selbst ohne Börsencrash wirkt die Luzerner «Fledermaus» frisch entstaubt. Der Rollentausch und ein starkes Ensemble sorgten für heftigen Premieren-Applaus

Eigentlich würde sich unsere Zeit ganz gut eignen für die Blosslegung einer dem Genuss hingegebenen Spassgesellschaft. So liegen die Parallelen zur «Fledermaus» von Johann Strauss auf der Hand, krachte doch just zur Zeit, in der die Handlung in Wien spielt, die Börse zusammen, worauf die Gesellschaft zu einem Tanz auf dem Vulkan anhob. Theaterdirektor Dominique Mentha, der bei der neuesten Produktion des Luzerner Theaters selbst Regie führt, hatte jedoch anderes im Sinn. Und die Wirkung gibt ihm Recht.

Ein schmachtender Tenor

Mentha zeigt, wie jede der bürgerlichen Figuren aus ihrer Existenz ausbricht, um in einer neuen Rolle geheime Sehnsüchte zu leben. Dadurch erscheint manches ungewohnt. Rosalinde etwa freut sich ungeniert darüber, dass ihr Mann Gabriel von Eisenstein Arrest verüben muss, weil sie sich so dem schmachtenden Tenor Alfred hingeben kann. Was sie da noch nicht weiss: Auch ihren Ehemann gelüstet es nach Erotik ausserhalb des Ehealltags. Nur zu gerne nimmt er die Einladung seines Freundes Dr. Falke zum Ball beim Prinzen Orlofsky an, wo die Damen nur so auf ihn warten sollen.

Ensemble ohne Schwachpunkt

Dass das Teil der Intrige ist, mit der sich Dr. Falke bei Gabriel für einen früheren Streich rächen will, unterschlagen manche Regisseure. In Luzern aber fügt sie sich als Handlungsfaden natürlich in das Geschehen ein. Das nicht zuletzt, weil Matthias Aeberhard (er alterniert mit Peter Bernhard) den Gabriel von Eisenstein unglaublich spontan und lebendig verkörpert, und stimmlich liegt ihm die Partie als Tenor sowieso gut. Das frühere Ensemblemitglied feiert damit ein glänzendes Comeback auf der Luzerner Bühne. Ein bisschen hat man gar Mitleid mit Gabriel, als er in die Zelle abgeführt wird, während die Gesellschaft weiter dem Alkohol frönt und für alles nur den Champagner verantwortlich macht.

Madeleine Wibom führt als Rosalinde, abgesehen von ein, zwei Spitzentönen, mit gepflegter Stimme das Ensemble an, in dem es keinen Schwachpunkt gibt.

Stimmlich glänzend bei Laune ist Sumi Kittelberger als Kammerzofe Adele und Tobias Hächler als Dr. Falke, der den berühmten Chor «Brüderlein und Schwesterlein» – ein Höhepunkt – mit betörendem Bariton anstimmt. Jason Kim als Alfred dreht seinen Tenor manchmal zu Stentor-Lautstärke auf, wobei nicht ganz klar ist, ob er damit einen brüllenden Tenor parodieren will. Boris Petronje als Gefängnisdirektor Frank und Robert Maszl als stotternder Dr. Blind beteiligen sich wie alle andern mit ansteckender Spiellaune am Geschehen. Olga Privalova, die als steinreicher Prinz Orlofsky die Gesellschaft blasiert im Bademantel empfängt, lässt einen satten Mezzosopran hören. Der aus Wien geholte Josef Forstner wahrt in dieser massvoll modernisierten Umgebung als einziger die Wiener Tradition: als Urgestein eines K.u.K.-Beamten in der Rolle des Gefängniswärters Frosch.

Tänzer als Sänger-Doubles

Alles wirkt unverstaubt und irgendwie neu: die modischen Kostüme von Jenny Wolf, die über den Orchestergraben vorgezogene, leicht schräge Bühne, auf der ein wandelnder Schrank, zwei Stühle, zwei Sofas, ein Tisch und zuletzt das heruntergelassene Gitter für das Gefängnis die einzigen Requisiten sind, ohne dass man etwas vermissen würde (Bühnenbild: Werner Hutterli).

Das reduzierte Luzerner Sinfonieorchester nimmt auf der Hinterbühne Platz. Damit gerät die Musik eher in den Hintergrund, aber was das Orchester unter Mark Foster an Schmiss vermissen lässt, macht es wett durch kammermusikalische Feinheiten. Umso mehr kommen die Figuren zur Geltung, die auch von einer überarbeiteten Textfassung profitieren. Das heisst, dass gleichzeitig auch die die Sänger doubelnden Tänzer des Tanzensembles sich gebührend entfalten können, denn sie sind ein wesentlicher Bestandteil dieser ebenso tanzfreudigen wie überschäumend spiellustigen Inszenierung. Das volle Haus spendete unermüdlichen Applaus.