Süsser die Oper nie duftete

Patrick Fischer, Der Bund (26.10.2009)

Hänsel und Gretel, 24.10.2009, Bern

Dale Duesing wischt in der Premiere seiner Berner Inszenierung die sozialromantische Patina von Humperdincks «Hänsel und Gretel» und hüllt die populäre Märchenoper in eine Lebkuchenduftwolke.

Es war einmal eine ganz normale Einbauküche, die beherbergte eine vierköpfige Familie. Dass diese Familie materiell arm dran sein soll, ist Boris Kudlickas Bühnenbild für Engelbert Humperdincks Märchenoper «Hänsel und Gretel» nicht auf den ersten Blick anzusehen. Die in landläufiges Teenie-Outfit gekleideten Kinder Hänsel (Claude Eichenberger) und Gretel (Hélène Le Corre) kommen von der Schule, tollen herum, zerdeppern den Krug mit dem Reisbrei und werden von ihrer in ein fürchterliches Retro-Kleid gewandeten Mutter Gertrud (Fabienne Jost) in den Wald gejagt.

Eine Kurzschlusshandlung aus materieller Not? Gewiss, die Armut hat viele Gesichter und der soziale Abstieg kann rasend schnell vonstattengehen. Bühnenwirksam oder gar plausibel umgesetzt ist dies aber mitnichten. Insofern lässt der Beginn von Dale Duesings Inszenierung am Berner Stadttheater doch einige Fragen offen.

Allerdings nicht in musikalischer oder darstellerischer Hinsicht: Die Mezzosopranistin Claude Eichenberger und die Sopranistin Hélène Le Corre erfüllen die hell ausgeleuchtete, trotz dem Märchenkontext völlig aurafreie Küche mit sonorem Wohlklang. Die satt timbrierten Stimmen mischen sich wunderbar – auch mit dem luxuriösen Sound aus dem Orchestergraben (Leitung: Roland Böer). Allerdings ist das Ganze – trotz der süssen Materie – nie Zuckerguss, sondern dynamisch differenziert und darstellerisch stimmig.

Passgenaue Personenführung

Verstärkend wirkt die sängerfreundliche, rhythmisch passgenau auf die Musik abgestimmte Personenführung. Da zeigt sich, dass der amerikanische Regisseur Dale Duesing selber auf eine reiche Erfahrung als Opernsänger zurückgreifen kann (vgl. «Bund» vom Freitag, 23.10.). Er verwechselt Rücksicht auf Sängeranliegen nicht mit statischem Von-der-Rampe-Singen, sondern lässt sich die Sängerinnen sich fast koboldhaft bewegen, was den verträumten, tänzerischen Gestus von Humperdincks Märchenmusik unterstreicht. Genuine Märchenstimmung will allerdings erst im Wald aufkommen, wo die beiden Hauptdarstellerinnen ein breiteres Ausdrucksspektrum zeigen können.

Warum aber das Sandmännchen (zauberhaft: Anne-Florence Marbot) in Hip-Hop-Klamotten durch den Wald schweben und das Taumännchen (traumhaft: Ninoslava Jaksic) eine Skater-Mütze tragen muss, bleibt im Dunkel des Waldes verborgen. Die stärksten und dichtesten Momente hat der Abend ohnehin, wenn die Inszenierung einfach Märchen sein darf, ohne sich mit Einbettungen in die Aktualität indirekt entschuldigen oder rechtfertigen zu müssen.

Verführerische Küchendüfte

Es war einmal eine ganz normale Einbauküche, die beherbergte auch eine Hexenküche. Der mit vielen Lebkuchen geschmückte Raum der Familie Besenbinder ist zum Reich der Knusperhexe (Fabrice Dalis) geworden. Eine stadtbekannte Confiserie sorgt für Nachschub und bietet die süsse Ware mitunter in einem Lebkuchenhaus im Theaterfoyer feil. Die vorzüglichen Sängerinnen und Sänger des Kinderchors der Musikschule Köniz (Leitung: Thomas Mattmüller und Franziska Rieder) helfen auf der Bühne als geknechtete Hilfsköche tatkräftig mit.

Mehr noch: Dem Publikum im Parkett des Berner Stadttheaters wird mit sündhaft süssen Wolken der Lebkuchenduft förmlich durch die Nase gezogen, wohl die süsseste Versuchung seit es Opern gibt . . .

Doch nur ein Familienkrach?

Dem kommt nur das Berner Symphonieorchester mit einer fast tadellosen Leistung bei. Roland Böer sorgt mit klarer Zeichengebung und inspirierten Impulsen für ein reibungsfreies Zusammenspiel von Bühne und Orchester. Delikate Blechbläsersoli, strahlkräftige Streicherklänge und flexible Holzbläser bilden die Grundlage.

Auch Hänsel und Gretel erliegen bekanntlich der Versuchung und geraten dadurch in die Fänge der Knusperhexe. Der Entscheid, die Rolle mit einem Tenor zu besetzen, ist bereits vom Komponisten als Alternative erwogen worden. Fabrice Dalis verkörpert die Rolle mit komödiantischem Talent, dem die vokalen Qualitäten nicht ganz zu entsprechen vermögen, und bricht so den Schrecken des Bösen. In den Ofen muss die Hexe aber trotzdem. Ein hübscher szenischer Einfall rundet das Bild ab: Die Kinder werden von Hänsel und Gretel aus ihren Kochkleidern befreit. Dann verspeisen sie den Kuchen aber trotzdem. Konsumkritik ginge anders.

Es war einmal eine ganz normale Einbauküche, die beherbergte wieder eine vierköpfige Familie. Die Eltern sind auch nicht so fürchterlich wie im grimmschen Märchen, wohl aber das sackartige Kleid der Mutter. Fabienne Jost als Mutter Gertrud und Kristian Paul als Vater Besenbinder vermögen ihren Kindern sängerisch zwar nicht ganz Paroli zu bieten, bürgen aber für das stimmige Familienbild, an dem Regisseur Dale Duesing nach eigenem Bekunden viel gelegen ist. Aus dieser Warte erscheint auch die Überlagerung von Familien- und Hexenküche plausibel – als ausufernder Familienkrach am heimischen Herd.