Mehr Alltag als Märchen

Herta Stalder, Berner Zeitung (26.10.2009)

Hänsel und Gretel, 24.10.2009, Bern

Die Märchenoper «Hänsel und Gretel» feierte auf der Bühne des Stadttheaters Premiere. Die Inszenierung bleibt unentschlossen darin, ob das Stück von Engelbert Humperdinck nun Erwachsenen oder Kindern gewidmet sein soll.

So einfach der Grimm’sche Stoff als Vorlage für das Libretto von «Hänsel und Gretel» erscheinen mag, so tückisch kann sich dessen Umsetzung gestalten. Obwohl Adelheid Wette, die Schwester Engelbert Humperdincks, das Libretto zum Schutze des kindlichen Gemüts verharmloste, bleibt es im Kern doch die altbekannte Schauergeschichte. Ist dies nun ein «Kinderstubenweihfestspiel» wie es «Hümpchen» (so nannte ihn Cosima Wagner) in Anlehnung an seinen genialen Lehrmeister Richard Wagner bezeichnete, oder ist es vielmehr ein «Märchen für Erwachsene»? Denn hinsichtlich der Musik – Humperdinck fand hier endlich seine eigene, einfache, aber unverwechselbare Tonsprache – ist es ein opulenter Orchestersatz, der technisch versierte und stimmlich ausgereifte Sänger voraussetzt. Eine Besetzung mit Kindern, und zwar nicht nur für die Hauptrollen, steht daher ausser Diskussion.

Flacher Regieansatz

Der Sänger und Regisseur Dale Duesing ist sich dieses Dilemmas bewusst. Er spricht in der aktuellen Aufführung am Stadttheater weder ausschliesslich die eine noch die andere Zielgruppe an, sondern eben beide – und damit keine richtig. An eine Kinder- respektive Puppenstube erinnert die Guckkastenbühne von Boris Kudlika. Sie zeigt das elterliche Zuhause von Hänsel und Gretel, eine realistische, bürgerliche Welt. Kein Blick, weder hinab in pschychologische Abgründe noch voran auf drohendes Ungemach. Zwar singen die Kinder, sie hätten nichts zu essen. Doch allein es fehlt der Glaube, wenn die Mutter im feinen Seidenkleid und eleganten Pumps (teilweise unglückliche Kostüme: Kaspar Glarner) aus der Stadt heimkehrt und sich über die faulen Kinder ärgert.

Mit zahllosen Lebkuchen bereichert, wird dieselbe Ausstattung im letzten Bild zum Interieur des Hexenhäuschens und wirkt alles andere als bedrohlich. Selbst der prominent platzierte Backofen erregt weder Furcht noch Schrecken.

Mystisch-märchenhaft hingegen das mittlere Bild im Wald. Da ist beispielsweise die Schlafensszene, in der die vollmundige Sinnlichkeit und das zitternde Weben im Orchester hinauf zur Himmelsleiter führen. Dank einfühlsamer Lichtregie vermag dies mindestens für erwachsene «Kinder» schaurig-intensive Momente zu erzeugen. Doch dann erscheint die Tenor-Hexe (Fabrice Dalis): ein Verschnitt von Mrs. Doubtfire. Tollpatschig und mit eingefrorenem Grinsen lockt sie Hänsel und Gretel mit einem einzigen, auf dem Fensterbrett ausgelegten Krümel Lebkuchen in ihren schwarzen, kubusförmigen Bau, mehr Kaaba denn Knusperhäuschen. Ende des Märchenzaubers, und zwar für alle Altersgruppen.

Hervorragender Vermittler

Was musikalisch unter der Leitung von Roland Böer ertönt, darf sich hören lassen: Mit Geschick vermittelt er zwischen Solisten und Orchester, mitunter sogar im Dreieck mit den Lebkuchenkindern (Kinderchor der Musikschule Köniz). Claude Eichenberger (Hänsel) und Hélène Le Corre (Gretel) meistern ihre delikaten Partien mit reizender Natürlichkeit und zauberhafter Spielfreude, wohingegen Kristian Paul (Peter) und Fabienne Jost (Gertrud), auch Nina Jaksic (Taumännchen) ihren Charakteren wenig Farbe zu verleihen vermögen. Nur einmal personifiziert sich das Märchenwunder, und zwar im Auftritt des Sandmännchens (Anne-Florence Marbot), das so zart und sinnlich einherschwebt und -klingt, dass, wird man sich dessen gewahr, es schon abgegangen ist.