Bar jeder Hoffnung, aber doch Menschen

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (10.11.2009)

Aus einem Totenhaus, 08.11.2009, Basel

Calixto Bieito inszeniert in Basel Janáčeks «Aus einem Totenhaus»

Ein radikales Stück, radikal inszeniert – so zeigt das Theater Basel Leoš Janáčeks Oper «Aus einem Totenhaus». Die verwendete Originalfassung der Partitur unterstreicht den Pessimismus des Werks. Dass Musiktheater durchaus auch etwas anderes sein kann als luxuriöse Unterhaltung, hier ist es zu erleben.

Selten wird Kunst so rabenschwarz, wie es hier geschieht. Und kaum je entlässt einen ein Opernabend – der Begriff wird da geradezu fragwürdig – so betroffen, wie es bei dieser jüngsten Produktion des Theaters Basel der Fall ist. «Aus einem Totenhaus», die letzte Oper von Leoš Janáček, ist harte Kost, so viel konnte man wissen. Erwarten konnte man zudem, dass sich Calixto Bieito jeder Form der Ästhetisierung, wie sie auch Patrice Chéreau in der wegweisenden, von Pierre Boulez dirigierten Wiener Inszenierung von 2007 gesucht hat, widersetzen würde. Aber dass die radikal körperbetonte Handschrift des katalanischen Regisseurs zu einer derart beklemmenden Sicht von Janáčeks letzter Oper führen würde, war nicht zu ahnen.

Freiheit als Illusion

Im Grunde fehlt hier alles, was zu einer Oper gehört, vor allem und in erster Linie die Erbauung. Aber auch eine Geschichte gibt es keine. «Aus einem Totenhaus», ein frühes Beispiel nichtnarrativer Dramaturgie, kennt keinen Zeitverlauf, sondern schildert eine Situation, die, darin liegt der Schrecken, jeder Zeitlichkeit enthoben scheint. Die Strafkolonie in der Unwirtlichkeit Sibiriens, deren Beschreibung Leoš Janáček in einem Text von Dostojewski gefunden hat, versammelt Verurteilte diversester Couleur unter der Willkür eines unberechenbaren Lagerkommandanten. Ein Tag ist wie der nächste, und ob sich da einer mehr oder einer weniger im Dreck wälzt, spielt keine Rolle. Nicht einmal der von mächtigem Glockenklang angekündigte Feiertag, der eine improvisierte Theateraufführung ermöglicht, bringt Abwechslung.

Calixto Bieito setzt das mit der gewohnten Zuspitzung in Szene. Wenn sich der eiserne Vorhang öffnet und den Blick freigibt auf die absolut kahle Bühne, die der Regisseur zusammen mit Philipp Berweger vorbereitet hat, kann man erst harmlosem Fussballspiel zuschauen. Bald wird jedoch nur zu deutlich, dass in dieser Strafkolonie brutale Gewalt herrscht, jeder gegen jeden ist und nichts als das Gesetz des Stärkeren gilt. Die Menschen sind nicht nur ihrer Würde, ja selbst ihrer Individualität beraubt, sie sind recht eigentlich auf animalische Funktionen reduziert, und so kann sich der Lagerkommandant (Andrew Murphy) in seinem Pelzmantel (die Kostüme stammen von Ingo Krügler) erlauben, eine Hälfte von ihnen kurzerhand niederzumähen. Das gibt immerhin zu tun, denn die Toten müssen entkleidet und in Plasticsäcke verpackt werden.

Für den «Funken Gottes», von dem Janáček im Zusammenhang mit dieser Oper spricht, steht der Intellektuelle Gorjantschikow (Eung Kwang Lee), der den jungen, in dieser Inszenierung grausam missbrauchten Alej (Fabio Trümpy) unter die Fittiche nimmt. Und für die einzige Sehnsucht, die im Text ein havarierter Adler verkörpert, steht hier ein bühnengrosses Flugzeug, das herniederschwebt und am Ende wieder in den Schnürboden entschwindet. Wenn Gorjantschikow am Ende trotz dem entsprechenden Erlass nicht freikommt, sondern vom Kommandanten umstandslos erschossen wird, so unterstreicht das nur den Pessimismus, in den die Oper mündet. Er ist lange Zeit nicht akzeptiert worden; in Basel wird selbstverständlich die Originalfassung der Partitur verwendet.

Identifikation

Und diese Partitur kam an der Premiere im Basler Stadttheater zu beeindruckender musikalischer Wirkung. Die von Henryk Polus vorbereiteten Herren des Theaterchors und das grosse Ensemble – es ist ausschliesslich mit Männerstimmen besetzt und sieht bis auf die Figur des Schischkow (Claudio Otelli) kaum herausgehobene Partien vor – gaben sich ihren Aufgaben mit aller Identifikation hin. Und das Sinfonieorchester Basel liess, gerade weil es nicht mit letzter Zuverlässigkeit agierte, die Grenzwertigkeit der Musik deutlich hörbar werden.

Anders als Pierre Boulez in Wien (und auf der von der Deutschen Grammophon veröffentlichten DVD) setzt der Dirigent Gabriel Feltz auf einen relativ weichen, warmen Klang. Die rasselnden Ketten waren sehr wohl zu hören, sie bildeten aber Teil eines klanglichen Ganzen; und die Pauken klangen hier nicht erstickt, sondern trugen ihren Teil zum Bassfundament bei. Die Wärme mag für jene Reste an Menschlichkeit stehen, die in Janáčeks «Totenhaus» da und dort noch aufglimmen.

Freiheit als Realität

Heftig geschüttelt verlässt man die Vorstellung. Vielleicht fragt man sich, warum Janáček dieses Stück geschaffen und warum er es so komponiert hat. Aber auch: warum es derart drastisch gezeigt wird; an wen geht da welche Botschaft? Vielleicht atmet man aber auch einfach durch und überlässt sich für einen Moment dem Gefühl, in einem gesellschaftlichen System zu leben, das seine Fehler hat, aber auch Freiheit und Rechtssicherheit kennt – ein Privileg, das man nicht hoch genug schätzen und nicht aktiv genug nützen kann. Jedenfalls: Niemand geht gleichgültig aus diesem Abend. Und das von Georges Delnon geleitete Dreispartenhaus in Basel, das sich jetzt mit berechtigtem Stolz Opernhaus des Jahres nennt, hat wieder einmal gezeigt, dass mit konsequenter künstlerischer Arbeit Ergebnisse realisiert werden können, vor denen sich die grossen Musentempel mit ihren prallgefüllten Geldbeuteln nur verneigen können.