Zuckungen von Humanität

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (10.11.2009)

Aus einem Totenhaus, 08.11.2009, Basel

Janáceks Oper «Aus einem Totenhaus» am Theater Basel

Die letzte Oper von Leos Janácek ist eher eine Abfolge von Monologen als ein traditionelles Musiktheaterstück. Am Theater Basel wird «Aus einem Totenhaus» zur beklemmenden Fallstudie.

Müsste man die bedeutendsten Errungenschaften menschlicher Kultur und Zivilisation aufzählen, so dürfte eine nicht fehlen: die Resozialisierung von Straftätern. Die Annahme also, dass ein Häftling grundsätzlich der Besserung fähig ist – auch wenn dies in der Praxis nicht immer gelingt. Das wird einem bewusst, wenn man Dostojewskis «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus» liest oder Leos Janáceks letzte Oper hört. Hier ist die Gefangenschaft eine Endstation, die den Menschen nur noch schlechter macht. Mord und Totschlag bleiben nicht vor Gefängnismauern stehen, Freundschaft und Liebe existieren nur verzerrt zu Prostitution und Perversion.

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito hat nie ein Hehl daraus gemacht, von den dunklen Seiten des Lebens angezogen zu sein. Er ist – weit davon entfernt, billig provozieren zu wollen – ein pessimistischer Moralist, der das Gute im Menschen allenfalls durch eine russige Scheibe sieht. «Aus einem Totenhaus» kommt ihm da entgegen: Humanität hat im Todestrakt keinen Platz. Nur hin und wieder blitzt sie auf. Und wenn man glaubt, wenigstens für einen der armen Kerle sei der Tag der Befreiung gekommen, fällt ein Schuss und er ist tot.

POLITISCH. Dieser eine ist der Gefangene Alexander Petrowitsch Gorjantschikow, der von Eung Kwang Lee mit Hingabe gesungen und gespielt wird. Als er sich als politischer Gefangener outet, schallt ihm Gelächter entgegen. Die Häftlinge haben den elementarsten Respekt verloren. Rasch schliesst er Freundschaft mit Alej (eine Entdeckung: der Schweizer Tenor Fabio Trümpy) und wird argwöhnisch von den Mitgefangenen beäugt.

Unter diesen findet sich ein Schuster, der in der Erinnerung an seine Geliebte dem Wahnsinn verfällt und sich in deren Kleider stürzt (Rolf Romei mit singschauspielerischem Engagement). Ein anderer, der sich Luka nennt (der grossartige Tenor Ludovit Ludha), entpuppt sich als früherer Nebenbuhler des ebenfalls inhaftierten Schischkow. Dessen grosser Monolog im dritten Akt gehört zu den Höhepunkten des Werks und der Basler Aufführung, weil der Bariton Claudio Otelli seine Partie absolut souverän und mit Sinn für Dramatik, aber ohne Überzeichnung realisiert.

In gleich zwei Rollen ist Karl-Heinz Brandt zu erleben – ein Beschädigter, der andere beschädigt. Es wären noch viele Darsteller zu nennen, die dem Stück zur Dringlichkeit verhelfen. Viele entstammen dem Basler Opernchor, den Henryk Polus zur Höchstform trainiert hat. Nicht zu vergessen die stummen Rollen, zum Beispiel ein hervorkriechender Nackter, der sich im zweiten Akt der Fellatio durch die männliche Nutte darbietet.

MÄNNLICH. Bieito hat sich in Philipp Berwegers Einheitsbühnenbild Freiheiten der Umsetzung erlaubt, die den Gehalt zuspitzen. Im Hintergrund oder an den Bühnenseiten passiert Unerhörtes – eine Massenerschiessung, eine Folter im Unsichtbaren. Das geht unter die Haut.

Anstelle des verletzten Adlers als Symbol der Freiheit hängt ein bühnenfüllender Doppeldecker aus der Entstehungszeit der Oper (1928) an der Decke. Und anstelle der Hure als der einzigen weiblichen Stimme im Stück sehen wir einen Transvestiten, so dass wir hier eine machistisch brutale Handlung ganz ohne weibliche Beteiligung vor uns haben.

Janáceks Musik ist sicher nicht das, was man gefällig nennt. Gerade in seinem Spätwerk pflegte er einen nervös flackernden, kurzatmigen Instrumentalstil, wie zusammengeklebt aus lauter kleinen Gesten, in die sich volkstümliche Melodiefetzen, hin und wieder ein betörendes Violinsolo oder ein lyrisches Einsprengsel verirren. Der Gesangsstil ist weit entfernt vom Jugendstil und dem späten Belcanto seiner Zeitgenossen, dem Sprechgesang der Wiener Schule näher als der Operntradition.

In der Basler Aufführung stimmt nicht zuletzt die instrumentale Seite. Dirigent Gabriel Feltz legt mit dem Sinfonieorchester Basel einen feinen, aber scharf gewürzten Fond unter die Gesangsstimmen. Ab und zu könnte man sich noch mehr orchestrale Aggressivität wünschen. Insgesamt ein pausenloser Opernabend von packender Intensität.