Die Abgründe der Bestie Mensch

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (10.11.2009)

Aus einem Totenhaus, 08.11.2009, Basel

Calixto Bieito hat Janáceks Oper «Aus einem Totenhaus» am Theater Basel in grandiosen, zugleich grauenvollen Bildern inszeniert. Und es wird stark gesungen.

Leer ist die Bühne des Theaters Basel, sie zeigt eine Öde. Alte Pneus, Abfallprodukte abwesender Zivilisation, liegen herum. Die Bühne, die Regisseur Calixto Bieito zusammen mit Philipp Berweger gestaltet hat, ist kein Lager in Sibirien, von dem Leos Janáceks «Aus einem Totenhaus» («Z mrtvého domu») erzählt. Die 1927/28 komponierte Oper basiert auf Fjodor M.Dostojewskis Roman «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus», auf dessen Bericht vom Lager, in das er 1850 bis 1854 eingesperrt war.

Bieito lässt «Aus einem Totenhaus» irgendwo – im Heute oder Morgen – spielen. Die leere, rohe Bühnenlandschaft gleicht einer Wüste nach der Apokalypse oder an den abgeschotteten Rändern der Welt. Die Gefangenen wie die Soldaten und der Lagerkommandant bilden eine reine Männergesellschaft verlorener, kaputter Existenzen. Es herrscht ein Klima der Aggressivität und Gewalt. Hier herrscht der Wahnsinn in seiner brutalsten Ausprägung.

Jede Figur trägt ihre grauenhafte Geschichte von Mord und Gewalt in sich und wird sie nicht los. Janáceks letzte Oper ist eine Art Collage von Massenszenen und individuellen Geschichten der Gefangenen. Bieito gelingt es in seiner detailgenauen Regie jeder Figur – auch in den Massenszenen – Individualität zu geben.

Der vornehme Alexander Petrowitsch Gorjantschikow (ergreifend Bariton Eung Kwang Lee), als politischer Gefangener ins Lager gebracht, wird gleich seiner Würde beraubt, von den Mitgefangenen verachtet, vom sadistischen Kommandanten (abstossend gut Andrew Murphy) und vonden Soldaten bis aufs Blut gequält. Aus diesem Grauen gibt es kein Entrinnen. Dennoch hält der junge Alej (ausgezeichnet Tenor Fabio Trümpy) an seiner Hoffnung fest, die sein Lebenselixier ist. Er baut sich als Symbol seiner Freiheitsvision ein Flugzeug aus Karton. Was bei Janácek der Adler ist, der von den Gefangenen verletzt wird, das ist bei Bieito das Papierflugzeug. Alej reisst mit seiner Hoffnung die anderen Gefangenen aus ihrer Resignation – bis der Kommandant wütend das Flugzeug zerreisst.

Das Flugzeug als Symbol der Freiheitsvision zieht sich als ein roter Faden durch die Inszenierung. Eine grosse alte einmotorige Maschine wird heruntergelassen auf die Bühne. Nur ist das Flugzeug eine Ruine, wird so Sinnbild der zerstörten Menschen hier.

Jeder Versuch, das Bestialische zu überwinden, wird im Keim erstickt, jeglicher Rest an Humanität ausgemerzt. Der Kommandant und seine Schergen zerreissen Petrowitschs Buch, das für ihn Rettungsanker ist und mit dem er Alej das Lesen lernt. Der Kommandant schiesst mit sadistischem Genuss Gefangene nieder. Und die Schergen stacheln jede Brutalität zwischen Gefangenen an.

Calixto Bieito durchleuchtet in starken, wahrhaft grauenvollen Bildern die Bestie Mensch in ihrer ganzen Abgründigkeit. Die Theateraufführung der Gefangenen, dieses Theater im Theater, zeigt er als Ausdruck ihrer perversen gewalttätigen Sexualität. Die Tanzszene wird zum schauerlichen Totentanz.

Der katalanische Regisseur deutet den Schluss der Oper im Wissen um die Gefangenen- und Konzentrationslager als all das menschliche Grauen im 20.Jahrhundert mit realistischer Härte. Es gibt keine Aussicht auf Freiheit.Petrowitsch wird Freiheit versprochen, die Musik entfaltet die lichte Vision. Bieito entlarvt das als Illusion. Petrowitsch wird erschossen.

Wie er das Grauen steigert, raubt einem den Atem. Die Erzählung des vom Wahnsinn befallenen Gefangenen Schischkow, der aus Eifersucht seine Frau umbrachte, ist – auch dank der grandiosen Leistung von Claudio Otelli – von erschreckendem Realismus. Das alles ist enorm präzis auf Janáceks Musik inszeniert, die wechselt zwischen aufpeitschenden, gewalttätigen Klängen und wehmütigen Melodien von Sehnsucht und Traurigkeit. Hier lässt Bieito in kleinen Geschichten gerade um Alej und Petrowitsch Menschlichkeit als schwachen Lichtschimmer aufblitzen.

Dirigent Gabriel Feltz und das Sinfonieorchester Basel tragen mit ihrem kammermusikalisch aufgefächerten, die Härten unterstreichenden Spiel die Regie mit. Gesungen wird tschechisch und das meisterlich sowohl von den Solisten als auch vom Chor. Und jeder wirft sich ohne Schonung in seine Figur.

Ein grandioses Kunstwerk des Opernhauses des Jahres, das grossen Applaus erntete.