Alfred Ziltener, Der Landbote (10.11.2009)
Mit der Aufführung von Leoš Janceks Werk «Aus einem Totenhaus» ist dem Theater Basel ein grosser Wurf gelungen.
«Aus einem Totenhaus», 1930 in Brünn posthum uraufgeführt, ist Janáceks letzte und düsterste Oper. Sie zeigt das seelische und körperliche Leiden der Gefangenen in einem Sträflingslager. Grundlage des Stücks ist Fjodor Dostojewskis gleichnamiger Roman, in welchem der Dichter seine vierjährige Haft in Sibirien verarbeitet hat. Die Figuren dieser Oper sind Räuber und Mörder.
Doch Janácek verurteilt sie nicht, sondern beharrt auf ihrer Menschenwürde. Er lässt sie in grossen Monologen von ihren Verbrechen erzählen und gibt so den Blick in ihre Seelen frei. Seine Musik ist ein Plädoyer für Mitleid und Menschlichkeit.
«In jeder Kreatur ein Funke Gottes» hat er seine Partitur überschrieben. In der letzten Basler Inszenierung der Oper 1974 hat Werner Düggelin diesen Funken in berührender Weise freigelegt. Davon ist der aktuelle Regisseur Calixto Bieito weit entfernt. Er zeigt Figuren am Rand des Wahnsinns, die unter entwürdigenden Bedingungen ihre Menschlichkeit verloren haben. Aggression und verdrängte Sexualität prägen ihr Leben. Schapkin, der unter der Folter ein Ohr verloren hat, schneidet nun einem Erschossenen ein Ohr ab. Zwei Sträflinge vergewaltigen den Tatarenjungen Alej.
Der Gott der Gefangenen
In der Theateraufführung des zweiten Akts findet die sexuelle Begier ein grotesk-komisches Ventil. Einzig der Neuling Gorjantschikow empfindet (noch) menschlich und kümmert sich liebevoll um den traumatisierten Alej. Der Gott dieser Gefangenen ist der Platzkommandant. Bieito macht aus dieser Episodenrolle eine zentrale Figur seiner Inszenierung, einen zynischen Machtmenschen, der schon mal mit den Gefangenen Fussball spielt, der als Voyeur ihr Treiben beobachtet und schliesslich aus einer Laune heraus eine Massenexekution anordnet.
Die Regie verzichtet klugerweise darauf, das Geschehen genau zu lokalisieren, weder in Sibirien noch in Guantánamo. Ingo Kröglers Kostüme sind von heute, ebenso der Raum von Philipp Berweger, ein Hangar mit einem Doppeldecker als bestimmendem Bühnenelement. Bieitos Personenführung ist genau, hart und schonungslos, aber ohne aufgesetzte Effekte. Dabei ist es ihm gelungen, Solisten, Chor und zahlreiche Statisten zu einem organisch agierenden Kollektiv zusammenzuschweissen.
«Aus einem Totenhaus» ist eine personenreiche Männeroper. In Basel war man zudem konsequent und wählte für den meist von einem Sopran gesungenen Alej die Tenorversion Janáceks; aus der Rolle einer Lagerhure wurde die eines Strichers. Das Stück ist also nicht leicht zu besetzen. Hier ist es gelungen. Ein homogenes, hörbar aufeinander eingeschworenes Ensemble von ausdrucksstarken Singschauspielern, in welchem noch die kleinste Rolle überzeugt, gibt den Figuren sängerisch Profil.
Präzis und klangvoll
Der Dirigent Gabriel Feltz und das Sinfonieorchester Basel betonen die Emotionalität von Janáceks Musik und entfalten präzis und klangvoll den Farbenreichtum der als spröde geltenden Partitur. Das Premierenpublikum reagierte am Sonntag mit vielen Bravos auf diese Aufführung, die in pausenlosen neunzig Minuten eine Intensität entwickelt, der man sich nicht entziehen kann.