Der Funke Gottes ist hier erloschen

Anna Kardos, Tages-Anzeiger (10.11.2009)

Aus einem Totenhaus, 08.11.2009, Basel

Der Skandalregisseur Calixto Bieito inszenierte Leo Janáeks Oper «Aus einem Totenhaus» am Theater Basel.

Wie viele Funken Gottes kann es im allertiefsten Abgrund geben? Das fragte man sich nach Calixto Bieitos Opernabend. Der göttliche Funke bezieht sich auf das Motto, das Komponist Leo Janáek seiner Oper «Aus einem Totenhaus» vorangestellt hat: «In jeder Kreatur ein Funke Gottes». Der allertiefste Abgrund bezieht sich auf Bieitos Inszenierung. Die Oper spielt in einem sibirischen Straflager, und der Regisseur zeichnet die Insassen als verrohte Brutalos, das Lagerleben als ein Fest der Gewalt. Da werden Leichen geschändet und Mitinsassen vergewaltigt. Dass die Aufseher sich noch eine Stufe sadistischer geben, überraschte einen kaum noch. Dass sie bei Bieito - wie man den Regisseur kennt - auch noch lustvoll ganze Magazine voller Blutpatronen verschiessen, war dann auch nicht erstaunlich.

In monochromem Blaugrau waren Alltag und Antlitz der Gefangenen gehalten (Kostüme: Ingo Krügler). In diesem Werk von Janácek gibt es keine Protagonisten, und eine zusammenhängende Handlung weist schon die Vorlage von Dostojewski nicht auf. Nur episodenhaft scheint aus der Masse der Gefangenen die eine oder andere Figur auf, erzählt ihre Lebensgeschichte, um wieder in der Anonymität zu versinken. Wie Rolf Romei als Skuratow, der sowohl musikalisch als auch darstellerisch mit sensibler, differenzierter Gestaltung überzeugte. Claudio Otelli als Schischkow sang geradlinig und Ludovit Ludha als Filka Morosow mit slawischer Schwere und erzählerischem Duktus. Letzteres erfordern auch die Gesangspartien, die weit mehr gesungene (tschechische!) Sprache als eigentliche Arien sind.

Klirrende Kälte, wilde Walzer

Unopernhaft wie der Stoff ist nämlich auch der Tonfall der Musik - dabei aber durchaus bildlich. Die vielen Repetitionen zeigen die Ausweglosigkeit des Lageralltags. Die klirrenden Ketten, die hohen Instrumente vermitteln Kälte; und die wilden Walzer sind von einer Munterkeit, der der Fall schon eingeschrieben ist. Von Gabriel Feltz geleitet, zeichnete das Sinfonieorchester Basel dies plastisch nach. Expressiv gestaltet, mit sattem Strich und mährisch-sonoren Bässen.

Inmitten der musikalischen wie szenischen Trostlosigkeit aber zeigen Janáeks Figuren so etwas wie Reue. Kommt es zum Äussersten, können sie mitfühlen. Denn sie sind und bleiben Menschen. Bei Bieito ist man sich dessen nicht so sicher.

Natürlich kann bezweifelt werden, ob nach dem Holocaust noch Gefangenenlager dargestellt werden können, in denen ein letzter Rest Menschlichkeit überlebt; ob nicht die Realität schlicht lehrt: Der Mensch ist schlecht. Diese Aktualisierung heisst aber, dem Stück bei aller sonstigen Konsequenz seinen ursprünglichen Grundton zu nehmen. Was die Inszenierung im Gegenzug anbot, war zwar einerseits Spannung und Kurzweil - bei der Schwierigkeit des Librettos immerhin eine Leistung! Sie liess aber manchmal den Gedanken an «Jungenspielzeug» aufkommen. Denn da waren Fussball, Flugzeug, sichtbare Bühnentechnik, Raufereien und Maschinengewehre. Und schliesslich entkam man auch Bieitos «Blow-up»-Effekt nicht, mit Geballer, Vergewaltigung, roher Sexualität. Ob aber wirklich besser ist, was nur grösser ist?

Dass die Inszenierung noch den kleinsten Rest Frauen von der Bühne verbannte (sogar die Dirne war ein Mann), fügte sich zwar konsequent in diese raue Welt. Damit wandelte sich andererseits auch die Lust, wurde gewalttätiger. Erregung und Brutalität, Lust und Mord rückten näher zusammen.

Eine fast zärtliche Liebe

Lediglich zwei Figuren stehen wie verlorene Königskinder inmitten des Geschehens. Es sind Alexander Gorjantschikow, der elegante politische Gefangene, und der unschuldig schuldige Tatarenjunge Alej. Beide entwickeln eine fast zärtliche Liebe zueinander. Eung Kwang Lee sang mit grosser Eleganz. Mühelos, klar und grosszügig strömte seine Stimme. Schade, dass diese Eleganz nicht auch schauspielerisch zum Tragen kam. Fabio Trümpy als Alej war auch stimmlich der zarte Junge. Er bleibt schliesslich übrig, als einer der wenigen Überlebenden in einem nun wortwörtlichen «Totenhaus». Und man bedauert ihn fast mehr als die vielen Erschossenen. Der Funke Gottes? Bei Bieito ist er definitiv erloschen.