Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (10.11.2009)
«Aus einem Totenhaus», die letzte Oper von Leos Janácek, ist auch seine schwierigste und entsprechend selten zu sehen. Am Theater Basel stellte Calixto Bieito am Sonntag eine düstere, gewalttätige Inszenierung auf die Bühne.
Dieses Gefängnis ist hermetisch. Schwere Metallwände schliessen es auf allen Seiten ab, wir erhalten Einblick in diese abgeschottete Szene, die überall und nirgendwo, der Kleidung der Insassen nach aber zu heutigen Zeiten spielt, auch nur, weil der massive Eiserne Vorhang den Blick auf diese vergessene Männergesellschaft frei gibt. Hier kommt keiner raus. Auch die Aufseher und ihr sadistischer Anführer nicht, die am Anfang zusammen Fussball spielen und sich dabei genau gleich primitiv und aggressiv verhalten wie es die Sträflinge später tun. Der einzige Unterschied ist: Sie haben Gewehre und Pistolen, von denen sie in der Inszenierung des katalanischen Regisseurs Calixto Bieito, die am Sonntag im Theater Basel Premiere feierte, auch erbarmungslos Gebrauch machen.
Tod und Verfall
Am Ende der Oper ist die Bühne übersät mit Leichen und schwarzen Toten-Säcken. Übrig geblieben von einer Aussenwelt ist nur ein Flugzeug, die passende Adaption des poetischen Adlers, von dem die Gefangenen singen. Eine Flugruine allerdings, die sicher nie mehr fliegen wird. Die Tragflächen sind nur noch ein Gerippe, selbst der Gedanke ans Fliegen scheint schon längst aus den Köpfen dieser Gefangenen verschwunden zu sein.
Geblieben aber sind die Erinnerungen. Die Geschichten von Frauen, Rivalitäten und Leidenschaften, die so stark waren, dass man dafür geraubt und getötet hat. Darum ist man hier und wird nie mehr hinauskönnen. Das hat Fjodor Dostojewski so nicht beschrieben in seiner Episodenfolge «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus», die 1860 erschien. Und auch Leos Janácek hat das weit differenzierter gesehen, als er 1930 diese Geschichte selbst zu einem Libretto umformte und daraus seine letzte und modernste Oper machte. Bei ihm, in seiner Musik, haben die Erinnerungen der Gefangenen nicht nur nostalgische Süsse, sondern auch eine emotionale Lebenskraft, die ein Überleben in diesem Gefängnis möglich machen. «In jeder Kreatur ein Funke Gottes» setzte er als Präambel über die Oper.
Bieito dagegen lässt in seiner Basler Inszenierung nicht den Funken einer Hoffnung mehr aufkeimen. Natürlich, das musste man vom Katalanen erwarten, der bekannt ist für seine drastischen, dunklen und mit Gewalt angereicherten Inszenierungen. Dass ein Glücklicher am Ende der Oper freigelassen wird, ist bei ihm nur ein weiteres sadistisches Spiel des Chef-Aufsehers. Die Bitte um Verzeihung für die erlittenen Ungerechtigkeiten ist nur noch höhnische Ironie: Gleich nach dem Satz: «Du bist frei!» Fällt der tödliche Schuss. Freiheit bringt hier ausschliesslich der Tod.
Von der Gewalt angesteckt
Von dieser Inszenierung, die überaus packend, aber etwas einseitig auf Hoffnungslosigkeit und Gewalt abstellt, hat sich Gabriel Feltz, der erste Gastdirigent des Theaters, scheinbar ein wenig anstecken lassen. Schon bei der letztjährigen «Lulu» war er zusammen mit Bieito verantwortlich gewesen. Dort hatte er Alban Bergs Zwölftonmusik in glühende Klangfarben gekleidet. Bei Janáceks Spätstil nun suchte er am Sonntag eine ähnliche Dramatisierung und klangfarbliche Üppigkeit, die aber zu dieser Partitur nicht immer passt. Das Ergebnis war oft unnötige Lautstärke, wo subtile Klänge mehr Kraft hätten entwickeln können, eine pralle Klanglichkeit, wo zerbrechliche Linien mehr Identifikationsmöglichkeiten mit den Figuren erlaubt hätten. So blieben sie, ungeachtet der hervorragenden sängerischen und darstellerischen Leistungen der Basler Männer, eine eher amorphe Masse, anstatt dass die persönlichen Schicksale, von denen sie erzählen, individuelles Mitleid hätten erwecken können. Orange Guantánamo-Uniformen quasi, anstelle des kleinen Eckchens Hoffnung, Traum und Persönlichkeit, das Menschen selbst in den unmenschlichsten Situationen pflegen können.
Genau dies aber wollte Bieito zeigen, und so kann man festhalten, dass Feltz' musikalische Umsetzung mit der szenischen kongruent war. Und dass er wohl auch noch zu einer detailreicheren Umsetzung in der Lage sein wird, wenn das Basler Sinfonieorchester mit den Feinheiten der Partitur wirklich vertraut ist. Engagement und individuelle Qualitäten, besonders schön bei der Sologeige, waren zweifellos vorhanden, aber die hohen Anforderungen an die Koordination auch mit der Bühne forderten Feltz praktisch in jedem Takt. Nichtsdestotrotz eine wichtige, keine leichte, aber sicher eine sehenswerte Produktion vom Opernhaus des Jahres.