Ein Alptraum von ewiger Jugend am Opernhaus

Werner Pfister, Die Südostschweiz (19.06.2006)

Vec Makropulos, 17.06.2006, Zürich

80 Jahre lang wartete das Zürcher Opernhaus, bis es Janáceks vielleicht unbarmherzigste Oper auf die Bühne zu bringen wagte. Das Warten hat sich gelohnt: eine grossartige Produktion, eine absurde Seelenschau der Sonderklasse.

Unglaubliche 337 Jahre ist sie alt, wenn sie die Bühne betritt: die gefeierte Operndiva Emilia Marty - ewig jung, Männer verführend, nie verblühend, aber im Innern etwa so resonanzlos künstlich, wie es Plastikblumen sind. In ihrer Kindheit wurde sie gezwungen, ein lebensverlängerndes Elixier einzunehmen. Nun geht dessen Wirkung seinem Ende entgegen, weshalb Emilia - wir schreiben mittlerweile das Jahr 1922 - nach Prag zurückkehrt und mitten in einen Erbschaftsprozess platzt.

Licht in die Akten kann nur Emilia bringen. Und genau darum geht es in Leos Janáceks Oper «Vec Makropulos» («Die Sache Makropulos»), die derzeit an den Zürcher Festspielen aufgeführt wird: Es geht um ein schrittweises Aufdecken der Vergangenheit, was zum Teil spannend wie ein Krimi ist. Und gleichzeitig geht es um Emilia selber, um die Enthüllung ihres absurden Lebensgeheimnisses und - damit verbunden - um die Frage, ob der Traum von ewiger Jugend, von uns allen geträumt, in Wirklichkeit nicht ein Alptraum ist.

Humane Subtilität

Ein durchaus aktuelles Thema also; eine Oper, die im grossstädtischen Leben spielt, in der Anwaltskanzlei, der Hotelsuite, der Theatergarderobe. Ungefähr das sehen wir auch auf der Bühne - mehr Andeutung zwar als Deutung und insgesamt etwas augenfeindlich, was das einfallslose Dauerschwarz des Bühnenraums anbelangt. Auf punktgenaue Reduktion ist Klaus Michael Grübers hellwache Inszenierung angelegt, die schnörkellos ins Bild setzt, was die Handlung erfordert, indem Schicht um Schicht ihrer psychologischen Tiefendimension mit respektvoller, ja humaner Subtilität freigelegt wird.

Denn der Traum von ewiger Jugend, das ist ein seelenzerfressender Alptraum im Zeitalter des technischen Fortschrittsglaubens. Dieser mag jene rauchende Dampflokomotive legitimieren, vor deren Räder sich Emilia Marty wirft nach einem berührenden Schlussmonolog über das Glück des endlichen Menschenlebens. Denn gerade in seiner Begrenztheit liege sein Sinn; «aber in mir ist das Leben stehen geblieben».

Starkes Ensemble

Gabriele Schnaut, die ihr mit immensem Beifall quittiertes Debüt als Emilia Marty gab, spielte das mit ausserordentlicher Intensität und sang mit jenem schwermetallisch-dramatischen Timbre, das zwar perfekt zur Seelenlosigkeit ihrer Existenz passen mag, manchmal aber fast nur noch vokales Gekeife ist. Alfred Muff stellte den Jaroslav Prus ganz als Pragmatiker dar - auch stimmlich ein Mannsbild vom Scheitel bis zur Sohle. Trotz einer Indisposition vermochte Peter Straka als Albert Gregor spielend glaubhaft zu machen, warum er (und darin seinem Vater gleich) der nicht fassbaren Persönlichkeit Emilia Martys hoffnungslos verfällt. Dasselbe Schicksal, diesmal aber mit tödlichem Ausgang, ereilt auch Janek Prus, von Boguslaw Bidzinski überzeugend als verschüchterter Weichling dargestellt. Grossartig ist schliesslich auch Martina Janková in der Rolle der jungen Opern-Elevin Krista, schwankend zwischen der Neigung zum Beruf und zur Liebe, gleichsam eine Emilia Marty am Anfang ihrer Karriere und doch, zum Schluss der Oper, das Rezept fürs Elixier zerreissend.

Das eigentliche Ereignis aber war Janáceks Musik, eine Musik der Kanten, Schärfen und Schroffheiten. Unter den Händen des jungen Schweizer Dirigenten Philippe Jordan entfalteten sich ihre sprechmotivischen Strukturen in der Tat als «Fensterchen zur Seele» (Janácek), entfaltete sich aber auch ihr starkes lyrisches Potenzial. Alles war da: Klangpracht, Detailschärfe, rhythmische Härte, ein authentischer, durchaus bekenntnisvoller Ton. Immer wieder schien diese Musik zu ungeahnten Höhenflügen abzuheben, und das auf weit gespannten Schwingen emotionaler Bewegtheit. Expressiv, in herben Farben leuchtend, überwältigend schön; gleichzeitig innig und kristallklar, gefühlstief und unsentimental. Mit Philippe Jordan stand ein Experte am Pult, dem nichts entging; auch für ihn frenetischer Applaus.