Jeder Mensch ist jedes Menschen Freund und Feind

Susanne Benda, Stuttgarter Nachrichten (10.11.2009)

Aus einem Totenhaus, 08.11.2009, Basel

Calixto Bieito inszenierte, Gabriel Feltz dirigierte Leo Janáceks Oper "Aus einem Totenhaus" im Theater Basel


Langsam, ganz langsam öffnet sich der eiserne Vorhang zwischen Bühne und Zuschauerraum und gibt den Blick frei auf eine öde Fläche mit einer riesigen Pfütze in der Mitte. Ein paar Männer spielen, während das Sinfonieorchester Basel die ewigen Wiederkehr des Immergleichen in harte, kantige Töne und Motive fasst, auf einem Gefängnishof Fußball. Im Parkett des Basler Theaters riecht es nach Schweiß. Calixto Bieito hat im Opernhaus des Jahres aus Leos Janáceks 1930 in Berlin uraufgeführter letzter Oper ebenjenes Körpertheater gemacht, das man von ihm erwartet, dabei jedoch auf physische Exzesse weitgehend verzichtet. Für "Aus einem Totenhaus" passt sein Konzept gut.

Dabei inszeniert sich dieses Stück nicht eben leicht: Einhundert Minuten lang will die immer wieder ausbrechende Gewalt in einem reinen Männerkollektiv durchgestaltet werden, einhundert Minuten lang will das Episodenhafte zusammengehalten, will die auf Dostojewskis Vorlage fußende Geschichte ohne Helden, ohne Hoffnung und ohne Moral auf der Bühne nacherzählt werden. Damit sich die tragischen Einzelschicksale zu einem theatralischen Bogen fügen, braucht es absolute Hingabe unter den Darstellern - eine Hingabe, wie sie jetzt in Basel beim Chor, bei den Statisten und bei den Solisten zu erleben ist. Sie geht so weit, dass Claudio Otelli, nachdem er den Schischkow gesungen hat, am Sonntagabend beim Schlussapplaus des begeisterten Premierenpublikums zur Verbeugung nicht mehr fähig ist - so sehr hat ihn die Rolle des betrogenen Mannes vereinnahmt, der aus Verzweiflung seine Frau erstach. Auch die anderen Solisten arbeiten mit geradezu exzessiver Identifikation daran, dass das Leid und das Aggressionspotenzial der dargestellten Menschen in guter Balance bleiben; Fabio Trümpy (Alej) und Eung Kwang Lee (Petrowitsch) sind die beeindruckendsten Sänger unter ihnen.

Die kleingliedrige Motorik in Janáceks Musik, dieses nervöse Vorwärtsdrängen, das sich am Ende doch immer wieder nur verzweifelt im Kreise dreht, fängt der Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker, Gabriel Feltz, gut ein, und Calixto Bieito gelingt bei der schon zweiten Zusammenarbeit der beiden (Alban Bergs "Lulu" hatte im Februar ebenfalls in Basel Premiere) auf der Bühne Entsprechendes.

Die Masse ist ständig in Bewegung, das Theater im Theater mit Don Juan und Schöner Müllerin ist eine wirkungsvolle, böse Groteske auch über unterdrückte Sexualität, und auf der Szene dominieren die kleinen Ereignisse derart, dass das Auge kaum weiß, wohin es zuerst schauen soll.

Schade nur, dass das Sinfonieorchester Basel zuweilen allzu flächig spielt und dass es vor allem der Partitur trotz seines sehr direkten Zugriffs einiges an Präzision schuldig bleibt. Auch gegen die Inszenierung lassen sich Einwände finden: Das riesige Flugzeug, das sich als Sinnbild der Freiheit (und Ersatz für den eigentlich vorgesehenen flügellahmen Adler) vom Schnürboden senkt, taugt mehr als bildkräftiges Zeichen und vielfach nutzbares Bühnen-Requisit denn als bedeutungsschwangeres Zeichen, und zur Frage, was das Stück heute für uns bedeuten könnte, gelangt Bieito ebenfalls nicht. Sie müssen sich die Zuschauer selbst stellen - und, wenn es nach Janácek und nach Dostojewski geht, nur mit der Feststellung beantworten, dass sich die Welt eben nicht plump unterteilen lässt in Schuldige und Unschuldige, Täter und Opfer.

Das sieht wohl auch der Regisseur so, wenn er am Ende nicht nur das Flugzeug unbemannt wieder in den Bühnenhimmel entschweben lässt wie eine unmögliche, ungreifbare Utopie, sondern auch dem gerade erst entlassenen Petrowitsch die Freiheit nicht gönnt. Ein Wärter erschießt den Sträfling. Jeder Mensch ist jedes Menschen Freund und Feind, die Hoffnung stirbt zuerst, und einsam sucht ein Gefangener am Ende nach den Trümmern des Modellfliegers, den ihm andere schon anfangs zertrümmerten. Die Bühne ist so voll von Müll und Leichen, dass seine Suche vergeblich bleibt.