Jörg Königsdorf , Tagesspiegel (11.11.2009)
Calixto Bieito inszeniert Janaceks Oper
"Aus einem Totenhaus" am Theater Basel ist ein Theater der Grausamkeit und fraglos eindrucksvoll und wie fast immer bei Calixto Bieito, mit immenser Hingabe der Darsteller umgesetzt.
Die Versuchung ist groß, es in Leos Janaceks letzter Oper so richtig krachen zu lassen. Wo, wenn nicht in diesem „Totenhaus“, kann man mit literweise Blut, Schweiß und Tränen zeigen, vorführen, was für ein erbärmliches Wesen der Mensch im Grunde ist und welche verrohende Wirkung das Wegsperren in Lagern und Gefängnissen auf ohnehin schon gefallene Existenzen hat? Äußerst knapp durch die Ankunft und die Entlassung eines Gefangenen zusammengespannt, besteht Janaceks 1930 uraufgeführte Lageroper nach Dostojewski hauptsächlich aus lose aneinandergekettelten Sträflingsberichten, die einander an Brutalität zu überbieten scheinen. Ein denkbar abschreckendes Thema, und es ist wohl kein Wunder, dass das „Totenhaus“ erst in den letzten Jahren endgültig als eine der größten Opern des 20. Jahrhunderts anerkannt und auch aufgeführt wird.
Nach den gefeierten Produktionen von Patrice Chéreau (Wien) und Barrie Kosky (Hannover) hat das „Opernhaus des Jahres“, das Theater Basel, das Stück nun Calixto Bieito anvertraut – dem Regisseur, der Elend und Grausamkeit des Menschseins so eindringlich, schockierend und kompromisslos auf die Bühne bringt wie keiner sonst.
Der katalanische Theaterberserker lässt denn auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Insassen dieses Lagers ebenso wie das Wachpersonal seelische Krüppel sind, die ihr unerfülltes Verlangen nach Liebe je nach Veranlagung in den Wahnsinn, die Selbstzerstörung oder die blinde Aggression treibt. Sein „Totenhaus“ ist ein Seelen fressender Moloch, ein Drogenknast voller Hitzköpfe, mit dem Rest der Welt nur durch eine rostige Propellermaschine verbunden, die die Bühne beherrscht. Und als wäre das alles nicht schon bedrückend genug, lässt Bieito irgendwann auch noch die Hälfte seiner Sträflinge zusammenschießen. Einfach so, weil hier ein Menschenleben sowieso nichts zählt.
Dieses Theater der Grausamkeit ist fraglos eindrucksvoll und wie fast immer bei Bieito, mit einer immensen Hingabe der Darsteller (herausragend: Rolf Romei, Claudio Otelli) umgesetzt. Und doch bleibt der Katalane diesmal hinter seinen letzten Arbeiten zurück, die unter der kraftvoll bewegten Oberfläche eben auch eine weitere, existenzielle Tiefendimension durchscheinen ließen, ein Ringen um die Seele des Menschen. Gerade das hätte Janaceks Meisterwerk nun aber am dringendsten gebraucht: Ein Gefühl dafür, dass dieses Straflager nur ein Gleichnis für die Menschheit ist, dass sich hier neben unvermittelter Brutalität und planvoller Unterdrückung auch Wärme und Solidarität, Glaube und Hoffnung, und eine erstaunlicherweise nicht versiegende Lebenskraft finden.
Diese lichte Seite, von der ja auch immer wieder die Musik in ihren Choralelementen und Volksmusikrhythmen kündet, verschweigt Calixto Bieito so weit wie irgend möglich. Und selbstredend macht er am Ende auch mit dem entlassenen Gefangenen einfach kurzen Prozess. An die göttliche Gnade der Gerechtigkeit, die am Ende dem einzig Schuldlosen die Freiheit gewährt, mag zwar der Komponist Janacek glauben, aber ein Bieito noch lange nicht.
Und noch ein Weiteres: In seinem vitalen Aktionismus verkennt Bieito auch den wesentlichen Punkt, der das „Totenhaus“ jenseits aller Straflagerthematik an unsere eigene Realität anbindet: dass nämlich hier das Berichten an die Stelle des Erlebens getreten ist, dass all diese Figuren sich nur noch durch den Prozess des Erinnerns die Tatsache vergegenwärtigen können, dass sie überhaupt noch am Leben sind (oder einst gelebt haben, wenn man den Titel des Stücks wörtlich nimmt). An die Stelle des Ereignisses ist seine mediale Aufbereitung getreten – fast wirken die Erzählungen von Mord und Totschlag ja wie improvisierte Realityshows, mit denen sich die Häftlinge von der Ödnis des Lageralltags ablenken. Seine ganze aufregende, beklemmende Aktualität, könnte das „Totenhaus“ wohl erst entfalten, wenn man es an diesem Punkt zu fassen bekäme.
Das bleibt freilich einer anderen Inszenierung vorbehalten, während in Basel zur überbordenden Szene redlich, aber etwas matt Musik gemacht wird (Leitung: Gabriel Feltz). Auch dem „Opernhaus des Jahres“ gelingt eben nicht alles.