Verheerender Wunsch nach ewiger Jugend

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (19.06.2006)

Vec Makropulos, 17.06.2006, Zürich

Das war ein Abend der Superlative. Die Zürcher Premiere von Janáceks schwierigster Oper «Die Sache Makropulos» wurde am Samstagabend in jeder Hinsicht zu einem überwältigenden Erfolg.

Der junge Schweizer Dirigent Philippe Jordan packte die Herausforderung dieser komplexen und vielschichtigen Partitur mit souveräner Gestaltungskraft, Regisseur Klaus Michael Grüber inszenierte mit meisterhafter Ökonomie und musikalisch-gestischer Präzision, und die Sängerin Gabriele Schnaut gab mit der Emilia Marty ein sängerisch wie szenisch grandioses Rollendebüt.

Leos Janácek hat mit seinen Opern «Jenufa» und «Katja Kabanowa» Seelengemälde von leidenschaftlicher Grösse geschaffen. Er, der die Frauen liebte und verehrte, hat seinen weiblichen Protagonisten aber nicht nur Grösse, sondern auch irdisches Leben, ja volkstümliche Echtheit verliehen. Und kein zweiter Opernkomponist hat - mit Ausnahme vielleicht von Benjamin Britten - seine Musik derart präzise und intensiv aus der tschechischen Sprache heraus entwickelt wie er, aus ihrem natürlichen Klang und ihrer rhythmischen Eigenart heraus.

Kleinste motivische Zellen

In seiner 1926 uraufgeführten Oper «Die Sache Makropulos» treibt er diese stilistische Eigenart ins Extrem: Janacek verzichtet gänzlich auf volkstümliche Klänge und lyrische Melodien. Er arbeitet vielmehr mit kleinsten motivischen Zellen, die er aus dem Sprachrhythmus heraus gewinnt. Das Libretto hat er ja auch selber eingerichtet, auf die gleichnamige Komödie von Karel Capek. Diese enge Verzahnung kleinster Zellen führt zu einer komplexen Partitur und zu einem Gesang, der zwischen Sprechen und Singen hin und her pendelt.

Die Geschichte ist surreal und offenbart eine erschütternde Wahrheit. Die gefeierte Hofopernsängerin Emilia Marty ist jung und schön, eine Operndiva von mysteriöser Ausstrahlung mit vielen Verehrern. Dennoch weiss sie über den hundertjährigen verbitterten Erbschaftsstreit und den Toten von damals überraschenderweise jedes Detail. Ganze zwei Stunden lang lässt sich Janacek Zeit, um im Grenzgang zwischen Gegenwart und Surrealität die unmögliche Wahrheit ans Licht zu bringen: Emilia Marty wurde vor über 300 Jahren als Tochter des griechischen Kaisers geboren und ist nun wegen eines medizinischen Experiments unsterblich.

Doch Emilia ist mit ihren 337 Jahren sehr einsam geworden, sie hat keine Seele mehr, die Unsterblichkeit hat ihr jeden Sinn und jede Lust für das Leben geraubt. Gabriele Schnaut ist fast ununterbrochen auf der Bühne. Anfangs spielt sie noch mit ihren Verehrern, sie könnte jeden haben, und der junge Janek nimmt sich sogar das Leben, weil sie seine Liebe nicht erwidert. Das alles lässt sie kalt, sie macht einfach weiter, ewig jung, schön und begehrenswert. Doch ganz allmählich und immer deutlicher bricht ihre Einsamkeit durch. Sie hat schon so viele Männer gehabt, wovon sie auch viele Wunden trägt, und das Leben ist in ihr zum Stillstand gekommen.

Bravourös gespielt

Gabriele Schnaut vermag diese grossartige Partie mit enormem Stehvermögen und bewundernswerter Agilität zu gestalten. Man nimmt ihr jeden Satz ab, mag er noch so unmöglich sein, und der Wechsel zwischen Operndiva und Mensch spielt sie bravourös aus. In dem Moment, als sie sich entschliesst, die Wahrheit zu sagen, kippt die Musik rhythmisch leicht aus dem Lot. Sie ist betrunken, sie will nicht mehr, die surreale Vergangenheit bricht aus ihr heraus. Im Orchester wird das alles im kleinsten Detail und im grossen Bogen miterzählt. Die letzte Steigerung dauert sicher ein halbe Stunde, und die Musik steigert und steigert und steigert sich mit bezwingender Stringenz bis zu Emilias selbstgewolltem Tod.

Janaceks Ausloten harmonischer und stimmlicher Grenzbereiche weiss Philippe Jordan ohne Härten und ohne Übertreibung voll auszuschöpfen. Tiefes Blech mischt sich immer wieder ein, die Bläser werden überhaupt stark gefordert, und der Streicherklang passt sich dem Gesprochenen eigentümlich an. Dass Jordan bei dieser kleinzelligen Struktur den grossen Bogen nie aus den Augen verliert, ist grosse Klasse. Interessant ist aber auch, wie Klaus Michael Grüber seine Figuren ganz in die Musik hineinbettet, ihre Gestik präzise aus ihr entwickelt und mit einer Reduktion aufs Wesentliche die Spannung noch zu steigern vermag.

Herrliche Kostüme

Es sind die herrlichen Kostüme, welche Moidele Bickel für Emilia entworfen hat, die die Szenerie sinnig beleben: die prunkvolle chinesische Schleppe mit Drachenmotiv - eine Anspielung auf Turandot - die rosa Feder-Boa, das schwarze Samtkleid und der Kopfschmuck - diese Frau spielt alle Fazetten aus. Auch der Bühnenraum der in der Zwischenzeit leider verstorbenen italienischen Künstlerin Titina Maselli spielt mit transparenter Malerei, einer überdimensionierter Dampflokomotive als Sinnbild für die Moderne, und mit mysteriösem Licht. Alles greift an diesem Abend ineinander, es stimmt in sich, modern und erschütternd. Eine Komödie über den Wunsch nach ewiger Jugend kippt in die menschlichste Tragödie, und alle ziehen an einem Strang.

Gelungene Rollendebüts

Von den vielen gelungenen Rollendebüts seien hier nur die grösseren Partien erwähnt: Martina Jankova singt die Krista mit lichter klarer und lebensfreudiger Stimme, und ihr Geliebter Janek, der sich das Leben nimmt, wird von Bog uslaw Bidzinski mit überzeugender «stotternder» Naivität dargestellt. Auch Peter Straka vermag als Emilias UrUrUrUrUr-Enkel Gregor den unglückseligen Burschen, der sich in seine Urahnin verliebt hat, mit weicher und agiler Stimme betörend darzustellen

Einen seiner glanzvollsten Auftritte hatte Boiko Zvetanov als irrer Komödiant Hauk-Sendorf, während Rolf Haunstein als Dr. Kolenaty einen musikalisch wie szenisch sehr präzise agierenden Pedanten abgibt. Und Alfred Muff vermag als Baron Prus und Vater des dummen Janek einen souverän prägenden Patriarchen-Charakter auszuspielen. Es gab stürmischen Bravo-Applaus für die ganze Crew.