Ein Märchenmarathon mit einem Schuss englischem Humor

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (15.12.2009)

Die Frau ohne Schatten, 13.12.2009, Zürich

Grandiose Solisten, eine intelligente Inszenierung und eine schöne Ensembleleistung: Das Opernhaus Zürich zeigte am Sonntag die neue Produktion von Richard Strauss’ «Frau ohne Schatten».

Ein Kunstmärchen haben der Dichter Hugo von Hofmannsthal und der Komponist Richard Strauss geschaffen. Fern von der Naivität des Volksmärchens, sich aber davon nährend, verschiedenste Einflüsse einbeziehend, symbolträchtig, ja überladen, auspsychologisiert und hochgetrieben expressiv. «Die Frau ohne Schatten» ist «Zauberflöte», «Sommernachtstraum», «Turandot» und salomonisches Urteil in einem.

Erzählt wird von einer Geisterprinzessin, die sich in verschiedene Tiere verwandeln kann. Als Gazelle wurde sie vom jagenden Kaiser mit einem Pfeil verletzt. Zurückverwandelt zur Frau, heiratet sie den Kaiser, wird also Mensch, aber sie hat keinen Schatten und kann keine Kinder bekommen. Das ist die Vorgeschichte. Die Oper beginnt, als der Bote des Geisterfürsten verkündet, sie müsse diesen Schatten innert drei Tagen gewinnen, sonst sterbe der Kaiser. So machen sich die Kaiserin und ihre hexenhafte Amme auf den Weg, um einer Menschenfrau ihren Schatten abzukaufen.

Ein Text voller Anspielungen

Bei der Färbersfrau, die ewig an ihrem braven Gatten Barak herumstänkert, scheinen sie fündig zu werden. Fast gelingt der Handel, aber da setzen zwei gegenläufige Bewegungen ein: Die Färbersfrau entdeckt, je weiter sie sich von ihrem Mann entfernen will, ihre Gefühle für ihn; die Kaiserin erkennt, je stärker sie die Menschen verstehen lernt, dass sie Schuld auf sich lädt. Ihre Prüfung gipfelt deshalb in ihrem Verzicht auf den Handel beziehungsweise den Schatten, womit sie jedoch gewinnt und sich alles zum Guten wendet.

Hofmannsthals Text steckt voller Beziehungen und Anspielungen, die ein Komponist gar nicht alle ausdeuten kann. Aber das wollte Richard Strauss auch nicht: Er legte mit all seinem brillanten handwerklichen Können eine intensive, starke Musik darüber, die stellenweise grossen Zauber entfaltet. Aus dem Kunstmärchen wird eine grosse, ausladende Oper. Über vier Stunden dauert sie in Zürich (inklusive zweier langer Pausen).

Es ist ein Marathon für alle. Manchmal wird das im letzten Aufzug am Orchesterklang spürbar, wenn die Musik vom Klangrausch zu feineren Passagen zurückkehrt, aber insgesamt entwickelt das Orchester der Oper Zürich einen opulenten Klang, zeigt es wunderbare Soli: Es ist präsent, ohne die Stimmen zu verdecken. Nur in den Zwischenspielen fährt Dirigent Franz Welser-Möst den Klang hoch. Mag sein, dass so die letzte Expressivität fehlt, aber dem ohnehin lauten Stück schadet das nicht, denn die Sängerinnen und Sänger sind sowieso ständig gefordert.

Bis auf den Kaiser (Robert Saccà mit seinem durchaus majestätischen Tenor) sind die vier Hauptfiguren fast ständig auf der Bühne. Und sie sind hier sehr gut bis hervorragend besetzt. Die Charaktere kommen in den Stimmen und ihren Timbres zur Entfaltung. So etwa die dunklen Abgründe und die bösartige Bestimmtheit bei der Amme von Birgit Remmert, die gar nichts Mütterliches an sich hat, sondern eher einem schwarzen Vogel ähnelt. Dagegen wirkt die Kaiserin weich und aufmerksam, zuweilen verunsichert, und so schön Emily Magee diese Partie singt, so führen vielleicht gerade ihre kleinen Unsicherheiten tiefer in die Emotionalität der Figur hinein.

Im Zentrum aber steht lange das Menschenpaar: der Färber und seine Frau. Hier menschelt es, hier verlässt das Stück das Märchenhafte. Janice Baird als Färberin gelangt, sobald sie das leichte Flackern in ihrer Stimme überwunden hat, zu grosser vokaler Ausstrahlung. Die Höhepunkte dieses Abends setzt Michael Volle als Barak, berührend mit seiner warmen, ruhigen Vortragsweise, mimisch differenziert und doch fähig zu fast übermenschlich grosser Wut - eine grandiose Darstellung.

Die Oper, deren erste Ideen auf 1911 zurückgehen, wurde 1919 in Wien uraufgeführt, entstand also während des Ersten Weltkriegs, der Europa verheerte. Während die beiden Autoren über Details korrespondierten, starben Millionen in den Schlachten. David Pountney aktualisiert nicht, aber er pflegt auch nicht die gern bemühte fernöstliche Exotik. Er zeigt das Stück in seiner ganzen Zwiespältigkeit. Die Trümmer des Krieges spiegelt die Heterogenität seiner Inszenierung wider (Bühnenbild: Robert Israel, Kostüme: Marie-Jeanne Lecca).

Zu Beginn - und auch später wieder - glauben wir uns in einem Stück von Edward Gorey; die Figur der hochgewachsenen schwarz gekleideten Amme, der mittels Stelzen vergrösserte Geisterbote mit Zylinder (Reinhard Mayr), die Rabenvögel: Sie sind von dunklem britischem Humor geprägt. Der für den Fortgang der Handlung zentrale Falke, eine von der Choreografin Beate Vollack selber getanzte und von Sandra Trattnigg gesungene Gestalt, wird zu einem arg gerupften roten Vogel.

Ganz andere Bilderwelten zeigt die Proszeniumsleinwand: Hier erscheint ein grosser Kinderkopf, der an einen Totenschädel oder die ausserirdischen Kinder aus dem Sci-Fi-Horrorfilm «Das Dorf der Verdammten» erinnert. In der Färberei aber, mit arbeitenden Kindern und heruntergekommenen Clochardtypen, sind wir im Milieu, fast in einer Sozialreportage. Gern hat Pountney immer wieder mit den Genreklischees gespielt. Im letzten Aufzug scheint die Szenerie im Chaos versunken. Dann aber entdeckt man jene hängenden und stehenden Eier, die vorher schon auftauchten. Wir glauben uns in einer Traumlandschaft, bei Salvador Dalí.

Ein surrealistisches Drama

Pountney dreht so Hofmannsthals etwas gar tiefenpsychologischen Symbolismus noch eine Drehung weiter hin zum Surrealismus. Kein Zufall: Guillaume Apollinaires Theaterstück «Les Mamelles de Tirésias» mit dem Untertitel «ein surrealistisches Drama» wurde just 1917 uraufgeführt. Verschiedenartiges trifft in dieser Inszenierung zusammen; aber so ist auch die Grundspannung des Stücks beschaffen. Und wenn so an diesem Abend auch keine szenische Einheit entsteht und es leichte Längen gibt, so schaut man doch ständig interessiert zu.

Am Schluss erscheinen alle Darsteller in Alltagskleidern auf der Bühne. Das Happy End als Premierenfeier. Die Amme, mit dunklen Augen immer noch etwas unheimlich anzusehen, verteilt die Suppe, so haben alle etwas davon. Es war ja auch bis in die Nebenrollen hinein eine schöne Ensembleleistung.