Gezähmte Übermächte

Hans-Klaus Jungheinrich, Frankfurter Rundschau (14.12.2009)

Die Frau ohne Schatten, 13.12.2009, Zürich

Zwei Frauen reisen. Die Kaiserin und die ein wenig dämonische Amme - ein Paar wie Faust und Mephistopheles - machen sich auf, um bei der Färberfamilie einen Schatten zu erhandeln. Für die junge Kaiserin ist das etwas ganz Neues. Arme Leute! Neugierig schaut sie sich in der Hütte um, betastet die Färbersfrau, nähert sich zutraulich dem misstrauisch-leutseligen Färber Barak... Regisseur David Pountney erzählt eine Geschichte der seltsamen sozialen Beziehungen und macht plausibel, wie viel prickelnde Realität in dieser wunderbaren, märchenhaften Erziehungsparabel von Hofmannsthal und Strauss steckt.

Von Blutleere, von zusammengestückelt orientalisierendem Bildungsgut, von einer etwas mühsamen "Zauberflöten"-Paraphrase ist in dieser neuen Zürcher "Frau ohne Schatten" nicht viel zu merken. Pountney setzt auf kraftvolles Psychologisieren, vor allem aber auf die Herausarbeitung des zentralen Mitleidsmotivs. Der Schatten symbolisiert Fruchtbarkeit, Menschenwürde. Ihn auf Kosten des niedriggestellten Färberpaares zu gewinnen, versagt sich die Kaiserin nach einem längeren Lernprozess. Eben diese Selbstüberwindung wendet alles ins Glückliche.

Pountney und Bühnenbildner Robert Israel setzen den dritten Akt als "danteske Vorhölle" deutlich von den beiden ersten ab, in denen zwischen einem phantasmagorisch aristokratischen Späthabsburg und einer geräumig textilverarbeitenden Werkstatt (Barak als Kleinunternehmer, der Kinder an Nähmaschinen arbeiten lässt?) hin- und hergefahren wird. Hernach ist ein Labyrinth von eingestürzten Gebäudeteilen entstanden, in dem die Beteiligten einander lange vergeblich suchen. Am Ende sind sie nicht bloß als Quartett und mit den unsichtbaren Hintergrundstimmen der Ungeborenen vereint. Nein, Hoch und Niedrig treffen sich beim improvisierten Mahl, sogar die verstoßene Amme darf wieder dabei sein; alle vertauschen ihre Kostüme (Marie-Jeanne Lecca) mit Alltagskleidung, verwandeln sich von Bühnenfiguren in Privatmenschen. Klassenlose Gesellschaft, Aufhebung von Sein und Schein, allseits gelungene Utopie!

Herzlicher, rührender, auch deftiger ist diesem großen Stoff (es ist einer) nicht beizukommen. Das geht weit über die etwas schmallippige Ironie der Schlussapotheose in Christof Nels sonst so bedeutender Frankfurter Inszenierung hinaus.

Indisch-persischer Zauberprunk (vermittelt über eine Bühne auf der Bühne) und ballettöses Vogelgestalten-Gewese waren eher dezent anregende als verwirrende Garnierungen. Belebt und präsent die Sängerdarsteller - der schlanke, aber hell fokussierte Tenor von Roberto Saccà als Kaiser, der eher routiniert lässig als dumpf agierende, souverän seine Baritonqualitäten emittierende Michael Volle als Barak, die in der Attacke vehemente Janice Baird als Färbersfrau, die auch als Erscheinung mächtige Birgit Remmert als Amme, die ihre Wandlung ins Mitmenschliche überzeugend und mit beträchtlichen Stimmreserven glaubhaft machende Kaiserin von Emily Magee. Ein attraktiv übergroßer Stelzenläufer: der Geisterbote von Reinhard Mayr.

Wie für Regisseure und Dramaturgen ist "Die Frau ohne Schatten" auch für Dirigenten zu einem Lieblingsstück geworden. Franz Welser-Möst, der bei diesem Zürcher Comeback viel umjubelte Wiener Staatsopern-Musikchef, hatte sich für die Akustik des relativ kleinen Hauses (vergleichbar mit dem Opernhaus Wiesbaden) eine apart-gediegene Konzeption zurechtgelegt: kein Gedröhne, durchsichtige Klanggestalten, hohe Textverständlichkeit. Da war schon das Eingangsmotiv eine eher moderat-imperiale "Keikobad"-Signatur, kein zerschmetternder Hieb klanglicher "Übermächte". Sehr verdienstvoll die Auf- und Auslichtung, wenn auch an etlichen Stellen (gegen Ende des Schlussakts etwa) die Metamorphose von rabiater Polyphonie in enthemmtes Getöse ein eigenes "erlösendes" Lustmoment bedeutet hätte, auf das diesmal "etepetete" verzichtet wurde.