Rückfall in die Entstehungsgeschichte

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (29.05.2006)

Aida, 28.05.2006, Zürich

Wenn es an der Premiere „Aida“ einen Preis für lautes Singen und lautes Musizieren gegeben hätte, wären alle Protagonisten und das Orchester damit ausgezeichnet worden.

Schade, denn eigentlich bietet Aida weit mehr als nur Stentorhaftes. Sicher, es gibt Massenszenen, es gibt heldische Passagen, aber es gibt auch sehr viel Lyrisches und Intimes. Diese beiden Facetten wurden allerdings in der neuen Produktion gänzlich ausser Acht gelassen.

Es war schon beachtlich, mit welcher Verve und Kraft gesungen wurde - aber mir reichte dies bei weitem nicht aus, um mich zu begeistern. Der „Startenor“ Salvatore Licitra verkörperte einen Radames der „alten Schule“, breitbeinig stehend, mit den Händen fuchtelnd und (pardon): mehr brüllend als singend. Er besitzt zwar eine gut geführte Stimme und hat weder in der Höhe noch in der Tiefe Probleme; allerdings ist die Stimme eher monochrom und von Differenziertheit ist sie meilenweit entfernt. Einige Töne klangen gequetscht und ein lang gehaltener Spitzenton endete meist tiefer oder höher als begonnen. Die Leistung war an und für sich in Ordnung; doch irgendwelche Gefühle konnte mir der Sänger nicht vermitteln.

Nina Stemmes Aida war auch eher dramatisch angelegt. Leider musste sie sich - wie alle anderen auch - gegen das fast übermächtige Orchester behaupten, so dass sie mehr Kraft aufwenden musste als normal. Dadurch wurde ein ziemliches Vibrato hörbar, das sie als Marschallin z.B. noch nicht hatte. Sie hat eine grosse Ausstrahlung und die Stimme sitzt gut, sie weiss sie gescheit einzusetzen. Doch auch hier fehlte es mir an Innigkeit und Wärme.

Luciana d’Intinos Bruststimme ist gewaltig und eindrucksvoll, doch „röhrt“ sie mir in dieser Rolle zu undifferenziert und zu brachial. Amneris ist sicher eine herrschsüchtige, starke Frau - aber auch sie ist eine liebende Person, die feinfühlig sein kann. Dies kam in der Stimme von Frau d’Intino leider nicht zum Ausdruck.

Gewohnt souverän sang Matti Salminen den Ramphis, auch wenn man bisweilen das Gefühl bekam, dass er sich in seinen Kleidern / der Regie absolut nicht wohl fühlte.

Juan Pons’ (Amonasro) Stimme mag vielleicht etwas abgesungen sein, er vermochte jedoch als einziger stimmlich Gefühle zu produzieren, selbst wenn auch er zu laut singen musste.

Dies war in erster Linie auf das Dirigat von Adam Fischer zurückzuführen. Was den Mann bewog, „Aida“ so undifferenziert und ohrenbetäubend aufzuführen, bleibt wohl sein Geheimnis. Vor allem ist dies nicht nachzuvollziehen, wenn im Opernhausmagazin steht:
„... es wird insgesamt eine „leise“ Aida werden, was freilich nicht einen tiefen Lautstärkenpegel meint - das kleinförmige, zaghafte Aufblühen all dieser vielfarbigen Gefühlswelten wird zu pflegen, eine Art Kultur des Flüsterns zu öffnen sein.“ (!?!?). Nach der „Turandot“ nun also wieder ein Werk, das einen Tinnitus verursachen kann - in Zukunft nehme ich vorsichtshalber Oropax mit...

Nun zur Regie (Nicolas Joel, in Zürich bekannt durch seine „La forza del destino“-Produktion - man hätte also gewarnt sein können...): Waren Sie auch schon mal in einer Oper und haben nach 15 Minuten gedacht, Sie sässen bereits eine Stunde drin? So ist es mir gestern ergangen. Der Regisseur hat die Handlung aus „ästhetischen Gründen“ (so das Magazin) in die Entstehungszeit, also 1871, verlegt. Wozu das gut sein soll, ist wohl keinem wirklich aufgegangen - ganz abgesehen davon, dass hinter einer zeitlichen Transponierung einer Opernhandlung doch so etwas Ähnliches wie konzeptionelle Überlegungen und nicht nur der persönliche Geschmack eines Regisseurs stehen sollte... Das Bühnenbild (Ezio Frigerio) verschaffte einem den Eindruck, in einer Halle der Pariser Weltausstellung zu sein (was schon die Entstehungszeit nicht ganz trifft). Die Kostüme (Franca Squarciapino) mögen aus der Zeit stammen; ob sie dadurch aber nun viel ästhetischer wirkten als zur Zeit der Pharaonen??? Die Männer trugen Fes und Operettenuniformen. Es geisterten Howard-Carter-Gestalten herum mit obligatem Tropenhelm, die vor der Schwertübergabe an Radames eine Götterfigur „ausgruben“ und bewunderten; beim Triumphmarsch wurde dann wacker mit Union-Jack-Fähnchen gewedelt (2 französische Fähnchen waren allerdings auch dabei - hatte sich da die Requisite vertan oder wollte der Regisseur uns damit etwas Bestimmtes sagen?). Die Damen änderten ihre Kostüme bei jedem Auftritt - der „Kassensturz“ hätte seine helle Freude an dieser ausgesprochen produktiven Verwendung der von ihnen monierten Subventionen für das Opernhaus gehabt...

Die Nilszene fand unter einem mit Sphinx und Pyramiden - ja, wir sind in Ägypten -geschmückten gläsernen Tiffany-Hotelvordach statt (da versteht man schon, dass das Treibhausklima einem die äthiopischen Temperaturen schmackhaft macht!). Interessant war auch, dass die Protagonisten offensichtlich Augen am Hinterkopf hatten - denn sie erkannten beim Singen zum Publikum immer, was gerade hinter ihnen passierte. Und das Grab von Radames und Aida war bautechnisch so ausgefeilt - wieder eine Pyramide, allerdings vorne NICHT geschlossen, auch wenn Radames singt „La fatal pietra sopra me si chiuse“ -, dass man nicht verstehen konnte, warum die beiden nicht einfach nach vorne in die Freiheit gingen, anstatt sich nach hinten zu begeben und zu warten, bis sich nach ihrem letzten Ton eine Steinplatte vor ihnen nach unten senkt. Kurz und gut: Für mich war die ganze „Inszenierung“ ärgerlich und höchstens als Parodie ernst zu nehmen. Die Personenführung war inexistent (von einer aussagekräftigen Behandlung des Chors - der sich gesanglich allerdings hervorragend aus der Affäre zog - in den Massenszenen ganz zu schweigen), so dass lediglich gepflegtes Rampensingen präsentiert wurde.

Sie merken selbst: Ich bin ziemlich frustriert aus der Ausführung gegangen. Meine Ohren schmerzten und neue Erkenntnisse über das Stück habe ich keine gewonnen, oder vielleicht nur diese: Wie lange haben wir jetzt schon keine stringente Verdi-Premiere mehr erlebt? Zu lange... So dachten offensichtlich auch die Zuschauer. Die Sänger wurden freundlich beklatscht, dem Regisseur wurden einige heftige Buhs verpasst (die - erstaunlich für Zürich - keine Gegenreaktion mit „Bravo“ hervorriefen).