Der Totentanz der Untergeher

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (22.12.2009)

La Grande-Duchesse de Gérolstein, 20.12.2009, Basel

Christoph Marthaler dekonstruiert am Theater Basel in genialer Weise Offenbachs «La Grande-Duchesse de Gérolstein» und bewahrt der Operette so ihren satirischen Geist.

Christoph Marthaler dekonstruiert am Theater Basel Jacques Offenbachs «La Grande-Duchesse de Gerolstein», er tut dies in hochintelligenter, sensibler Weise. Der erste Akt wird fast vollständig gespielt – gebrochen durch Musik des erklärten Offenbach-Gegners Richard Wagner. Der zweite und dritte Akt sind fast ganz gekappt, ebenso wie das Happy End. Hier erklingt Musik von Händel, Brahms und Bach. Marthaler baut die opéra-bouffe mit dem Blick von heute um, macht gerade so den satirischen Geist Offenbachs und seiner beiden Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy, für uns wieder griffig und bissig.

Spielort ist die in ihrem vornehmen Schein öde Lobby eines Grand Hotels, dem Parkhotel Schönbrunn nachempfunden – mit obligatem Sissi-Gemälde. Unter der Halle sind eine Modeboutique und ein Waffenladen eingerichtet, daneben die Einfahrt zur Tiefgarage. Anna Viebrock hat ein geniales sprechendes Bühnenbild gestaltet.

Eine noble Gesellschaft, verfangen in ihrer Stagnation und Langeweile, findet sich ein zum Empfang der Grande-Duchesse de Gérolstein. Diese Noblesse gibt sich erhaben in Bayreuth’scher Manier und ist doch nur eine abgehalfterte Operettengesellschaft. Wie Marthaler das in repetitiven Spielsequenzen unterstreicht, ist von hintergründigem Witz.

Um die Sicherheit der Grande-Duchesse sind ihr Generalsekretär und der die Wörter nie findende Pressesprecher besorgt (komödiantisch und skurril die beiden langjährigen Marthaler-Schauspieler Ueli Jäggi und Jürg Kienberger). Der asthmatische, immer wieder schnarchende General Boum (herrlich Christoph Homberger) erwacht nur, wenn der Waffenhändler (in schmierig mafiöser Hinterhältigkeit von Raphael Cramer gespielt) im Laden im Rhythmus der Musik herumballert. Dann ruft Boum «der Feind». Und er ist ein alter Lustmolch, genauso wie der zum Regierungsstab gehörende Baron Puck (in schmieriger Dekadenz schön gegeben von Karl-Heinz Brandt). Der findet sich genial, weil er einen Krieg anzettelt, um die Grande-Duchesse von ihrem Plan, selbst zu regieren, abzulenken.

Der Barpianist (Bendix Dethleffsen, ein in jeder Hinsicht ausgezeichneter Spieler) empfängt die Noblen mit Wagners «Meistersinger»-Vorspiel. Das Kammerorchester Basel tritt als Armee der Grande-Duchesse auf. Dirigent Hervé Niquet gibt sich mit Schalk als De-Gaulle-Karikatur. Das Orchester setzt an zur Ouvertüre: Tannhäuser erklingt. Da hat der Waffen- und Notenhändler falsche Noten hingelegt. Es beginnt neu – mit Offenbach, spritzig gespielt, die Verballhornung von Militärmusik wird ausgekostet. Die langsamen Passagen spielen die Musiker mit Melancholie, mit einer schier zerbröselnden Melodieseligkeit. Niquets Interpretation und Marthalers Inszenierung bilden eine Einheit. Niquet nimmt Offenbach ernst als das, was er war, ein gewiefter Theatermusiker. Sein Offenbach packt und hat Seele.

Marthaler verdeutlicht das Libretto, fühlt ihm auf den Zahn. Ueli Jäggi skandiert und repetiert die ersten Passagen des Chortexts: dass das Abschiednehmen folgt, zuerst aber ist trinken, singen, tanzen, springen angesagt, bevor es Krieg gibt. Doch ausgelassen ist niemand. Vital singt der Chor, der diese dumpfe, unbewegliche Gesellschaft spielt, die nur etwas wippt, nicht tanzt.

Anne Sofie von Otter, der Star der Produktion, gibt sich gerade nicht als Star. Sie fügt sich ganz ins Ensemble ein. Sie ist eine grandiose Grande-Duchesse, gibt ihre Figur von der Karikatur bis zu ihrer Tragik in all ihren Facetten. Im Gesang entfaltet sie ihren grossen Reichtum an Farben. Als Staatsfrau ist diese Duchesse gleichsam ein Automat, der die Worte «Ach wie liebe ich die Armeesoldaten» herunterleiert, bis der Ton ausbleibt.

Leben erwacht in ihr, als sie den Soldaten Fritz entdeckt, sich in ihn verliebt. Fritz wird von Norman Reinhardt komödiantisch als gewitzter und vorwitziger Jüngling gegeben. Reinhardt singt schön mit agil geführter heller Tenorstimme. Doch der Fritz liebt seine Wanda, die hier die von allen gefoppte und angemachte Serviertochter ist. Agata Wilewska spielt und singt zauberhaft – ergreifend und mit feinem Witz. Welch eine schöne Idee, dass der Wache schiebende Fritz und Wanda ihr Liebesduett zuerst über die Gegensprechanlage des Hotels singen. Die Duchesse macht weiterhin Fritz ihre eindeutigen Avancen und befördert ihn zum General. Schweizerisch spiessig flucht Boum über seine Degradierung. Und blöd dastehen lässt die Duchesse Prinz Paul, diesen aufgeblähten Gockel, den sie heiraten sollte. Tenor Rolf Romei gibt ihn in seiner Blassheit und Verlorenheit als Karikatur.

Fritz führt – zum Trauermarsch aus der «Götterdämmerung» – die Männer und die Orchesterarmee durch die Tiefgarage in den Krieg. Das Orchester verwindet. Aus ist’s mit Offenbachs wirbligen Melodien. Die Zurückgebliebenen versinken vollends in der Starre. Wanda serviert Whiskey statt Champagner. Die Grande-Duchesse liegt auf dem Fenstersims und gibt ihrem Elend mit innig gesungenen Passagen aus Händels «Giulio Cesare» Ausdruck, begleitet von Klavier und Gambe. Alle stimmen ein in «Selig sind, die da leiden» aus Brahms «Deutsches Requiem»: hier ein deprimierender Abgesang. Von Otter, Wilewska, Homberger, Brandt, Romei, Jäggi, Kienberger, Cramer, Carina Braunschmidt und Dirigent Niquet als orchesterloser General spielen berührend die sich besaufenden, zerbröselnden Figuren. Die Tänzerin Altea Garrido gibt der Tristesse mit ihrer virtuosen, klaren Körpersprache sichtbare Gestalt und bricht sie mit abgründigem Witz. Als Fritz alleine und besoffen aus dem Krieg zurückkommt, glaubt niemand seinem Siegesgesang. Resigniert heiratet die Duchesse den Prinzen, legt sich zur Hochzeitsnacht aber alleine aufs Sofa im Waffenladen, die Gewehre umarmend. Ein starker Schluss. Der Krieg bringt nur Tod und kaputte Menschen..

Bei Marthaler löst sich mit der noblen Gesellschaft auch die Operette auf. In seinem grandiosen Theaterkunstwerk «La Grande-Duchesse de Gerolstein», das von absurdem, wunderbarem Humor und von einer feinen Poesie der Melancholie ist, lässt er sie zugleich neu aufleben, gibt ihr den subversiven Gehalt zurück. Das gelingt auch, weil er seine Figuren ernst nimmt, sie präzis zeichnet. Ein grosser Theaterabend mit einem Ensemble und Chor, die ebenso herausragend spielen wie singen, einem schauspielernden Niquet und dem bestens musizierenden Kammerorchester Basel.