Absurde Fantasie auf das Ende der Zeiten

Susanne Benda, Stuttgarter Nachrichten (22.12.2009)

La Grande-Duchesse de Gérolstein, 20.12.2009, Basel

Premiere am Theater Basel: Christoph Marthaler inszeniert und dekonstruiert Jacques Offenbachs "Großherzogin von Gerolstein"


Ist ein Regisseur im Publikum? Die Frage klingt hilflos. Sie kommt von der Bühne des Basler Theaters, wo am Sonntagabend Jacques Offenbachs Operette "La Grande-Duchesse de Gérolstein" Premiere hatte. In der Inszenierung Christoph Marthalers beginnt das Stück aus dem Jahr 1867 in Chaos und Stille.

Und in Chaos und Stille hört es nach gut zwei Stunden auch wieder auf. Dazwischen findet sich ein bisschen Offenbach - und ganz viel Marthaler. Eine Epoche endet, ohne Hoffnung, ohne Vision. Vier Jahre nach der Uraufführung von Offenbachs Operette beginnt der Deutsch-Französische Krieg. Frankreich kränkelt, Strukturen und Hierarchien sind starr, der Wille zur Veränderung (noch) gering. Die Mächtigen langweilen sich, kultivieren Rituale, träumen von siegreichen Kriegen und Machtgewinn; das Fußvolk führt aus, was befohlen wird. In diese anämische Atmosphäre setzt Offenbach debile Adlige, Hofschranzen, agile, lustige und merkwürdig verbogene Untertanen. Auf der Bühne, unter der Oberfläche einer penetrant gut gelaunten, immerfort betriebsamen Musik, entblößt er ihre Banalität, indem er diese auf die Spitze treibt. Die Marotten der Figuren wirken wie des Kaisers neue Kleider - ganz plötzlich stehen Prinzen, Prinzessinnen, Könige und Generäle nackt da. Darüber lacht man so lange, bis man merkt, dass Offenbachs Typen nicht gestorben sind. Sie leben noch heute.

Viele Dirigenten mögen die subversive Munterkeit von Offenbachs Musik, und viele Regisseure lieben seine Stücke - so wie Christoph Marthaler. In Basel geht jetzt seine Liebe so weit, dass er der Idee einen Großteil der Musik opfert - was etliche Zuschauer nach der Premiere mit lauten Buhrufen quittierten. Tatsächlich hat der Regisseur zwar den ersten Akt weitgehend stehen lassen, das Folgende jedoch nicht nur ganz gestrichen, sondern diese Streichung auch noch dramaturgisch motiviert: Das Kammerorchester Basel unter Hervé Niquet, dessen Musiker anfangs in Soldatenuniformen aufmarschiert waren, verlässt, als ein sinnloser Krieg befohlen wird, den Saal.

Nun spielt ein Pianist im Hintergrund des dreistöckigen Grand Hotels, das Anna Viebrock auf die Bühne stellte, etliches Anspielungsreiches aus Wagners Musikdramen; gesungen werden - besonders hingebungsvoll und gebrochen von Anne-Sofie Otter in der Titelpartie - außerdem das "Piangero" und das "Son nato a lagrimar" aus Händels "Giulio Cesare" wie auch Bachs "Schlummert ein, ihr matten Augen". Sogar Mozarts "Königin der Nacht" huscht schemenhaft vorüber. Schließlich entwickelt sich aber das "Selig sind, die da Leid tragen" aus Brahms" Requiem, das die beteiligten Sänger und Schauspieler immer wieder singen, summen und leise pfeifen, mehr und mehr zur akustischen Grundfarbe des Abends.

Dazu bewegt man sich marionettenhaft, man trinkt, man sitzt, fällt auf den Boden, wiederholt dieselben Gesten und Aktionen. Gläser werden zertrampelt, eine Tänzerin windet sich durch Sitzgruppen wie Steh-Ensembles, und während in der Straßenzeile des Hotels ein Modeladen den Ausverkauf ankündigt, wird nebenan ein Waffengeschäft eröffnet. Wenn hier Pistolen ausprobiert werden, zuckt General Boum (Christoph Homberger) oben in seinem Fauteuil zusammen, schreit erschrocken "Der Feind! Der Feind!" - und sinkt dann wieder in sich zusammen. "Est-ce que . . . " beginnen in einer Szene alle einen Satz, den niemand beendet; "selig", murmelt man, Brahms nachsinnend, und wenn eine Arie zunächst nur als Text mit allen blöden Wiederholungen vorgetragen wird, ist sogar die folgende Musik der letzten Sinnhaftigkeit enthoben.

Die absurde szenische Fantasie, die Christoph Marthaler hier ausspinnt, enthält viele Ideen und Elemente, die man von ihm hinlänglich kennt - sie hat zunehmend Längen, und manchmal wünscht man sich schon, ein bisschen mehr von Offenbachs Stück gesehen und vor allem gehört zu haben. Doch dann verfällt man wieder diesem seltsam eidgenössischen Humor, der Zeit braucht, um sich einzudunkeln, dann verfällt man der Poesie der kleinen Dinge, dem Netzwerk der kleinen Aktionen, zu dem sich das scheinbar Ereignislose zusammenfügt, der Ironie, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem ergibt, den melancholischen Bildern einer orientierungslos gewordenen Gesellschaft, die vergebens nach Leitfiguren, Zielen und Utopien sucht.

In diesem Punkt treffen sich Marthaler und Offenbach auf eigenartige, manchmal gar anrührende Weise. Beide machen Kunst am Ende einer Zeit, die das Regiebuch verloren hat. Ist ein Regisseur im Publikum?