Anne Sofie von Otter ist Marthalers "Großherzogin"

Manuel Brug, Die Welt (21.12.2009)

La Grande-Duchesse de Gérolstein, 20.12.2009, Basel

Christoph Marthalers "Pariser Leben" aus dem Jahr 1998 ist legendär und gilt als eine Aufführung, die das Operetten-Genre verändert hat. Nun hat der Schweizer sich wieder einmal an ein Werk von Jacques Offenbach gewagt. In Basel singt Anne Sofie von Otter in "Die Großherzogin von Gerolstein".

Für ihn würde sie sogar die Klofrau spielen, hat Anne Sofie von Otter einmal gesagt. Jetzt durfte es immerhin eine Großfürstin sein. Und für die Rückkehr des Weltstars nach Basel, von wo der schwedische Mezzo vor 26 Jahren seine Karriere im ersten Engagement begonnen hatte, öffnete Christoph Marthaler jetzt zum zweiten Mal die wohlgefüllte Offenbach-Operetten-Bonboniere. Nach seinen legendären „Pariser Leben“ in Wien und an der Berliner Volksbühne vor elf Jahren lief jetzt da, wo er ebenfalls im Bahnhofsbuffet seine Regiekarriere angefangen hatte, die „Grande-Duchesse de Gérolstein“ als ätzend-verhaltene Militärsatire vom Stapel. Oder eher als präzise gezeichnetes Sittenstück mit kalkulierten Rissen.

Wo Marthaler einst das Pariser als Ost-Berliner Leben hatte aufschäumen lassen, und die Destruktion der Verhältnisse zur delirierenden Partyorgie ausgeartet war, da führt er jetzt ein eher stilles Panorama vor. Was anno 1867 während der Pariser Weltausstellung vor den mächtigsten Politikern Europas als waffenrasselnde Parodie auf die Kriegstreiberei der deutschen Kleinstaaten verstanden wurde, gerät dem älter und minimalistischer gewordenen Marthaler zum mit Gewalt komischen, aber eigentlich furchtbar traurigen Gesellschaftspanorama. Selten war er so janusköpfig, zuckte man vor der Gewalt der Marschmusik aus Trommeln und Trompeten zusammen, wie wenn nach fast stummem Vorspiel vom als General gekleideten Dirigenten Hervé Niquet zur Attacke geblasen wird.

Der Blick schweift, denn Anna Viebrock hat mal wieder in die Bühnenbreite gebaut. So eine Art Minipalast der Republik ist es geworden, grob und klobig, nur ein verschämter Doppeladler, ein einzelner Lüster, Modell „Neo-Schönbrunn“ und Winterhalters Kaiserin Sissi-Portrait verbreiten ein wenig royalen Glanz. Man schaut von außen hinein in die mit Billigstilmöbeln dekorierte Halle, was Anlass zu vielerlei Witzen mit den nicht vorhanden Scheiben bietet.

Im ersten Stock beginnt das Personal sich gemächlich einzukleiden und Staub aus den Fugen zu wischen. Es kommt ins Stocken, ratlos fragt einer nach einem Regisseur im Publikum. Ein Barpianist spielt Wagner. Noch ist der Orchestergraben leer, langsam tröpfeln die Musiker des Kammerorchesters Basel in Tarnanzügen herein.

Zu ebener Erde, neben der monströsen Lieferanteneinfahrt, sperren eine Billigboutique und ein Waffenhändler ihre Türen auf. Immer wenn der Ballermann (Raphael Klamer) zur Probe auf seine Pappkameraden feuert, schreit oben der senile General Boum (Christoph Homberger) „der Feind“ und lässt die ewig sich umziehende Honorarkonsulin (Carina Braunschmidt) auf dem straff gepolsterten Sofa auf- und nieder wippen. Die kriecht dem ebenfalls tattrigen Privatsekretär (Ueli Jäggi) über den Kopf und verfängt sich grotesk mit dem Kleid. Der wiederum haut der Saaltochter Wanda (Agata Wilewska) die später ausführlich zertretenen Plastiksektgläser weg und zieht ihr lustgreisig die Schürze auf.

Auch der Chor hat sich in Frack und Fifties-Brokatrobe zum Diplomatenball aufgestellt. Das lebende Stillleben à la Marthaler mit seinen typischen Melodien und Mechaniken, Ticks und Wiederholungen hat sich weiträumig entfaltet, bevor nach zwanzig Minuten der erste Offenbach-Orchesterton erklingt.

Und dann kommt endlich auch – das Täschchen waffengleich am Unterarm eingehängt – die Grande-Duchesse, la Otter, in rosa Elizabeth-II.-Kostüm, mit ultrafies weißblonder, zum Lockenstabheiligenschein geformter Perücke. Die nimmt noch nicht die Truppenparade samt Kriegserklärung ab, um so von ihren perfiden Ministern von deren Machenschaften abgelenkt zu werden. Stattdessen beehrt sie begeistert den Achtziger-Jahre-Kleiderladen, wählt ein schmuckes Camouflage-Outfit und nebenan eine reizende Damenpistole: das Pumpgun war nämlich nicht Clutch-kompatibel.

Oben kommt der Offenbach in Fahrt, mit Unterbrechungen. Dem gesprochen Text wird nachgehorcht, bevor er gesungen wird, von der Otter mit fester Diseusenstimme. Sie, die von Bach bis Ullmann, von Abba bis Weill fast alles Mezzomögliche gesungen hat, nur keinen Belcanto, aber bereits ein Offenbach-Programm, fügt sich vollkommen in die Marthaler-Familie. Ist endlich einmal Komikerin, aber eine bittere. Für den Soldaten Fritz (Norman Reinhard), der ihr samt seiner Wanda als amouröse Fruchtfliege vor die Nase gelockt wird, begeistert sie sich nur am Rande. So auch Marthaler: Zwischen seinem Offenbachtrubel ist immer eisige Einsamkeit und leere Pflichterfüllung um diese leicht derangierte Herrscherin.

Als der erste Akt absolviert und erstaunlich zotenfrei dem „Säbel von Papa“ gehuldigt worden ist, (man singt französisch, spricht aber deutsch), zieht das Orchester in den Krieg. Was folgt, gleitet mutwillig ab, ist nur noch eine Marthaler-Musikcollage zum einsam modulierenden Klavier. Die Gesellschaft wird betrunkener und sentimentaler, keck und albern; man kennt das aus diversen Marthaler/Viebrock-Party-Arrangements. Offenbach interessiert kaum noch.

Die Resthandlung wird so hastig wie beiläufig abgespult. Fritz gewinnt den Krieg, aber die Großherzogin hat sich längst mit dem Prinzen Paul (Rolf Romei) getraut. Ratlos stehen Karl-Heinz Brandt (Baron Puck) und Jürg Kienberger (Pressesprecher) als Drahtzieher der gescheiterten Intrige dumm rum und säuseln sich durch diverse Bach-Kirchenmusiken. Prinz Paul liegt auf der Treppe, die Gäste hängen über der Brüstung. In der Boutique herrscht Totalausverkauf, und im Ballerbuden-Schaufenster lallt sich die Otter, „Rosenkavalier“-Takte auf der schweren Lippe, mit dem Maschinengewehr im Arm vor einem Rambo-Poster in den alkoholsatten Schlaf. Keine männermordende Megäre als frivole Knallschachtel, nur eine Mitleid erregende Monarchin. Katerstimmungs- blackout.

Wo in Berlin das komplette „Pariser Leben“ von Sylvain Cambreling für Marthaler genial umorchestriert und geschmeidig aktualisiert wurde, da taugt ihm jetzt in Basel der Original-Offenbach höchstens als so fragmentarische wie löchrig böse, bisweilen auch routinierte Befindlichkeitsstudie, die im Nichts abstürzt. Die man aber trotzdem auch zu Silvester anbietet. Na, dann: Prost, Neujahr!