Am Ende ein Pfeifen

Georg Rudiger, kultiversum (22.12.2009)

La Grande-Duchesse de Gérolstein, 20.12.2009, Basel

Ein Mann kommt auf die Bühne und schließt sein Waffengeschäft auf. Auch in der Modeboutique nebenan wird das Licht angeschaltet. Immer mehr Menschen bevölkern dieses herrschaftliche 60er-Jahre-Haus, das auch das Foyer eines Konzertsaals sein könnte (Bühne: Anna Viebrock). Hier wird Staub gewischt, dort eine Säule vermessen. Man schreitet langsam die Treppe herunter und trinkt ein Glas Sekt. «La Grande-Duchesse de Gérolstein», Jacques Offenbachs temporeiche, bitterböse, zur Pariser Weltausstellung 1867 komponierte Militärsatire beginnt am Theater Basel so, wie eben ein Christoph-Marthaler-Abend beginnt: mit szenischem Leerlauf und beklemmendem Nichtstun. Man wartet. Eine Dame hüpft loriotesk auf einem Sofa, ein Herr zupft an der Schürze des Dienstmädchens (Kostüme: Sarah Schittek). Dann tröpfeln die Musiker des Kammerorchesters Basels ein. Sie tragen olivgrün-gescheckte Kampfanzüge und Springerstiefel.

«Ist ein Regisseur im Publikum?» fragt ein Frackträger. Ratlosigkeit. Dann betritt ein Dirigent in französischer Uniform (Hervé Niquet) durch den Zuschauereingang den Saal, schwingt sich in den Orchestergraben und gibt den Einsatz: Wagners «Tannhäuser»-Ouvertüre erklingt. Der Fehler wird bemerkt, die Noten werden ausgetauscht. Dann endlich startet der Abend mit dem Eingangschor von Offenbachs Operette.



Die beiden Schauspieler Ueli Jäggi (Privatsekretär) und Jürg Kienberger (Pressesprecher) sorgen weiterhin für retardierende Momente. Kienberger wird immer wieder von seinem Gedächtnis im Stich gelassen, Jäggi zitiert auch mal minutenlang eine Militärtheorie von Carl von Clausewitz. Wie immer arbeitet Regisseur Marthaler mit Wiederholungen. Das können Gesten sein wie Baron Pucks (Karl-Heinz Brandt) notorische Griffe an das Schürzenband von Wanda (Agata Wilewska), die immer mal wieder Sektgläser auf den Boden schmeißt – oder auch Textelemente, die repetiert werden. «Der Feind, der Feind» ruft General Boum (Christoph Homberger), wenn er die Schüsse des Waffenhändlers (Raphael Clamer) oder andere Geräusche hört. Und es gibt die vielen absurden Elemente. Ein Botschafterin (Altea Garrido) rutscht auf dem Treppengeländer hinunter, schlägt ein Rad schlägt und verfällt in eine Hasstirade auf spanisch. 


Die Eingriffe, die Marthaler in die Musik vornimmt, sind noch massiver. Da wird eine Arie durch einen asthmatischen Hustenanfall oder das laute Schnarchen des General Boum unterbrochen. Marthalers Prinzip der Verfremdung kann die Antikriegsthematik des Stoffs stärker herausbringen, wenn Anne-Sophie von Otter, die für die Rolle der Großherzogin wieder an den Ort ihres Karrierestarts zurückgekommen ist, den Arientext «Ach, wie liebe ich Armeesoldaten» zuvor mit allen Wiederholungen rezitiert, ehe sie mit ihrem reichen Mezzo die Verse auf französisch singt. Aber irgendwann funktioniert die ironische Brechung an diesem Abend nicht mehr, weil sich der Schweizer Regisseur zu sehr von der Vorlage entfernt. Ein Pianist (Bendix Dethleffsen) spielt mal einen Handyklingelton, dann wieder ein paar Takte aus Wagners «Tristan und Isolde», später werden zwei Arien aus Händels Oper „Giulio Cesare“ eingefügt. Da hilft es wenig, dass Norman Reinhardt als Fritz und Agata Wilewska als seine Braut Wanda das wenige, was sie singen dürfen, mit hellem Timbre durchaus hörenswert tun. Das Kammerorchester Basel kommt durch die vielen Unterbrechungen nicht so richtig in Schwung, den Esprit und den Drive von Offenbachs walzerseligen Musik sucht man vergeblich.

Das Ende ist radikal. Marthaler verzichtet auf den zweiten und dritten Akt der Operette. Die mit einem Gewehr versorgten Orchestermitglieder dürfen gehen. Einige der Protagonisten bleiben noch auf der Bühne und singen «Selig sind, die da Leid tragen» aus Brahms' «Deutschem Requiem» – die Botschafterin tanzt dazu in absurden Posen. Der rätselhafte Abend endet im gemeinsamen Pfeifen der Akteure.