Operettenkrieg

Joachim Lange, Frankfurter Rundschau (22.12.2009)

La Grande-Duchesse de Gérolstein, 20.12.2009, Basel

Christoph Marthalers Bühnen-Kreationen bestehen immer auf ihrer eigenen Ästhetik, haben einen besonderen Sound und ihre eigene Dynamik. Man kann das lieben oder für Bühnenblödsinn halten, aber musikalisch ist es auf jeden Fall. Besonders, wenn er sich eine Operette von Offenbach vornimmt.

Sie fängt mit einem Morgen an. Gleich hinter dem noch leeren Orchestergraben des Baseler Opernhauses bestückt ein smarter Waffenhändler gerade seine Auslagen für die Neueröffnung. "Es gibt sinnvollere Geschenke als alkoholische Getränke" steht auf seinem Werbeschild. Die Boutiquenbesitzerin von nebenan kommt angeknattert, was man nur hört. Was man eine Etage darüber, sieht, ist eine Mischung aus moderner Hotellobby und Salon. Mit Treppe, Galerie, einem Bar-Piano samt Pianisten, einem Sissi-Ölschinken an der Wand und einem Ausblick aufs Mietshaus dahinter. General Boum (was wie bumm klingt) wirft sich in den Sessel, wo er noch viele Male Hustenanfälle bekommen, Herzattacken überstehen, einnicken und immer wieder nach dem Feind fragen wird. Christoph Homberger ist dafür genau der richtige Sing-Komödiant. Er wird bald sein Kommando über die Truppen von Gérolstein hinschmeißen, weil die Chefin an deren Spitze lieber den schmucken Füsilier Fritz (Norman Reinhardt) sehen würde.

Dass es hier eigentlich um Jacques Offenbachs französische Operette "La Grande-Duchesse de Gérolstein" geht, dämmert auf, wenn der Orchestergraben nach und nach von Musikern des kammerorchestersbasel in Kampfuniformen eingenommen wird, und sich am Ende auch noch der scheinbar gerade der Fremdenlegion entlaufene Hervé Niquet in Ausgehuniform und mit Einkaufstüte Hände schüttelnd bis zum Pult vorarbeitet. Dass er irrtümlich mit dem Tannhäuser-Vorspiel beginnt, wird nach Protesten von der Bühne durch einen Blick ins Programmheft eines Zuschauers korrigiert. Schon als einer der Herren aus der ersten Etage ins Publikum gefragt hatte, ob denn ein Regisseur im Saale sei, war klar, dass dieses Vorspiel zu einem ganz eigenen Marthaler-Abend gehören würde. Der bietet den 1. Akt vollständig, aus dem 2. und 3. Fragmente, die mit Wagner vom Bar-Piano, Ariosem von Händel, Bach und Brahms und vielen Marthalereien durchmischt sind. Die spielfreudige Anne Sofie von Otter als Großherzogin sieht ein wenig so aus, als würde Camilla Queen üben. Sie kauft sich eine Pistole fürs Handtäschchen, probiert in der Boutique erst ein tarnfarbenes Kostüm an, entscheidet sich dann doch für eine festliche Staatsrobe.

Musikgeschichtliche Hinterlist

Bei Marthaler wird das Ganze aber nicht nur zu einer Parodie aufs militaristische Gehabe und Personalpolitik eines Fürstenhauses, er schafft es auch, dem Stück, das nicht zu den genialsten Libretto-Erfindungen des Duos Meilhac/Halévy gehört, einen abgründig melancholischen Boden einzuziehen, der mit musikgeschichtlicher Hinterlist vom Klavier meist als Wagner herüber weht. Wenn es dann unter Führung des zum General beförderten Fritz tatsächlich in den Krieg geht, den Gérolstein ohne erkennbaren Feind oder Grund führt, bekommen tatsächlich fast alle eine Waffe in die Hand gedrückt. Auch die Musiker gehen und kommen nicht wieder zurück. Nur die Großherzogin, die nun doch den Prinzen Paul (Rolf Romei) nimmt, der Pianist und ein paar Getreue bleiben zurück. Selbst als Fritz lädiert zurückkommt und vom Sieg berichtet, ändert das nichts mehr.

Mit ariosen Fußnoten der Otter verdämmert der Abend dunkel glänzend in einer Fallhöhe, die man erst einmal so hinbekommen muss. Die einsame Herzogin tröstet sich mit ein paar neuen Modellen aus dem Waffenladen und sitzt allein auf der Bank vor dem Geschäft. Wenn der letzte leise Ton und das Licht verlöschen sieht man nebenan in der Boutique im Schaufenster das Schild "Totalausverkauf".

Ein paar Zuschauer in Basel bezogen das auf ihren Regie führenden Landsmann und buhten. Der größte Teil des Publikums aber bejubelte einen vielleicht nicht ganz fertigen, aber wunderbar skurrilen und hoch musikalischen Marthaler-Abend, der die Offenbach Operette über die liebestolle Fürstin nicht nur parodierte, sondern auf eine erstaunlich hintergründige Weise ernst nahm.