Alexander Dick, Badische Zeitung (22.12.2009)
Christoph Marthaler ist immer für ein Überraschung gut. Jetzt hat der Schweizer Regisseur in Basel eine frivole Operette in Szene gesetzt: "Die Großherzogin von Gerolstein" von Jacques Offenbach. Und die Überraschungen lassen nicht auf sich warten.
Nach einer knappen Viertelstunde die erlösende Wortmeldung auf der Bühne: "Ist ein Regisseur im Publikum?" Gut möglich, dass da einer sitzt im Basler Theater, aber es meldet sich keiner, und so bleibt doch der ganze Abend an einem anderen hängen. Der hat ganz offensichtlich keine Lust, oder sagen wir es vorsichtiger, freundlicher: Christoph Marthaler hat Skrupel. Und so wird er sich nach nur einem Akt aus der Opéra-bouffe in drei Akten und vier Bildern "Die Großherzogin von Gérolstein" stehlen, so wie er sich auch in das Stück hineingemogelt hat. Was dazwischen war, hatte mitunter genialische Züge. Aber seine tiefe Abneigung gegen die Titelfigur zwingt den Schweizer Marthaler das Lager zu wechseln – vom Brandstifter zum Biedermann, vom Interpreten zum Zensor. Marthaler zensiert den Komponisten Jacques Offenbach und seine Librettisten und wird zum Operettenkriegsdienstverweigerer.
Was ist diese Opéra-bouffe – vulgo Operette, die in ihrem Uraufführungsjahr 1867 selbst die Zensur des zweiten französischen Kaiserreichs auf den Plan brachte? Ein Stück, das "frivol den Krieg, das Militär, die absolutistischen Herrschaftsmethoden" seinerzeit thematisierte, wie die Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeyer schreibt. Und eines, das Ausdruck einer ganz anderen, oppositionellen Haltung ist – noch einmal Wehmeyer: "Bei den Militärmärschen Offenbachs kann man hören, wie pazifistisch er dachte, wie die Helden abgeschafft sind."
Beim Basler Kammerorchester, das in zeitgenössischen Kampfuniformen (Kostüme: Sarah Schittek) spielt und Gastdirigent Hervé Niquet übrigens auch. Nach anfänglichen kleinen, unnötigen Verständigungsproblemen verströmen die Musiker den Charme eines kleinen Pariser Offenbach-Theaters. Ebenso wie die fabelhaften Sänger und Schauspieler. Anne Sofie von Otter, deren Weltkarriere von Basel aus begann, brilliert in ihrer Paraderolle als blasierte Großherzogin – eine Mischung aus Vamp und Queen, eine Mezzosopranistin, die mit dem Chansonhaften ebenso glänzt wie bei Koloraturen im Piano. Auch sonst stimmt alles: Norman Reinhardt als Soldat Fritz und Agata Wilewska als seine Geliebte Wanda singen und spielen ohne Makel – Christoph Homberger (General Boum), Ralf Romei (Prinz Paul) und Karl-Heinz Brandt (Baron Puck) sind wunderbar eigenwillige Karikaturen, brillant sekundiert von Ueli Jäggi (Privatsekretär) und Jürg Kienberger (Pressesprecher). Homogen und spielfreudig schließlich: der von Henryk Polus einstudierte Chor. Dirigent Niquet sucht und findet das Charakteristische an Offenbachs von genialer Melodik beherrschter Musik mehr bei Mozart als bei Rossini und Meyerbeer; charakteristisch dafür sind sehr viele Legato-Phrasierungen dort, wo sonst eher Staccato und Überrhythmisierung gepflegt werden.
Das raubt der Musik leider ein wenig ihren Stachel – jedenfalls so weit sie überhaupt erklingen darf. Denn gegeben wird im wesentlichen nur der erste Akt mit einem Vorgriff aus dem zweiten sowie vom Klavier begleiteten Fragmenten. Weshalb? Möglichkeit eins: Der Regisseur merkte im Laufe der Proben, dass angesichts der epischen Breite allein des um ein typisch Marthaler’sches Vorspiel erweiterten ersten Aktes die Dimensionen eines Theaterabends gesprengt worden wären. Möglichkeit zwei: Marthaler fühlte sich angesichts der Frivolität der Handlung dem Stück nicht mehr gewachsen und verweigerte sich ihm. Letzteres ist wahrscheinlicher. Oder wurden dem Regisseur selbst die bekannten Marthalerismen zu peinlich? Tatsächlich hat man von Anbeginn Déjà-vu-Erlebnisse: Satz- und Handlungsfragmente in Endlosschleifen, Unpersonen – also solche, die es im Stück gar nicht gibt – mit typischen Obsessionen und eigenwilligen Running Gags, Simultanaktionen im Stile des absurden Theaters – das alles funktioniert zum Großteil ganz virtuos und schlägt spielerisch leicht Brücken zwischen Offenbach und Gegenwart. Und das inmitten einer architektonischen Landschaft, die Anna Viebrock dieses Mal vornehmlich in den späten 1960ern angesiedelt hat – Franz Winterhalters berühmtes Sisi-Porträt und ein Kristallleuchter ausgenommen. In wunderbar viebrockischem Kontrast dazu Tiefgarageneinfahrt, Mode- und Schusswaffenboutique im Souterrain des Komplexes: Frivoler Regisseur meets frivolen Tonsetzer. Der wiederum darf von Anfang an nicht alleine ran – Marthaler lässt – einmal mehr – einen Klavierspieler (ebenso expressiv wie subtil: Bendix Dethleffsen) handlungstragend mitspielen – mit viel Wagner und ein bisschen Mozart und Lehár.
Dann aber die Peripetie – die kriegsnarrische Großherzogin schickt ihre Armee zum Finale I ins Feld. Marthaler kann und will den Offenbach’schen Zynismus nicht fortsetzen – und somit auch das Stück nicht. Der Regisseur versinkt in Lamento und Langeweile, und mit ihm der zurückgebliebene kleine Hofstaat. Am Klavier erklingen Wagners Trauermarsch aus "Götterdämmerung", Händel und vor allem Brahms’ "Deutsches Requiem": Selig sind, die da Leid tragen. Dazu gibt’s die Thesen zur Kriegsführung des preußischen Militärtheoretikers Clausewitz sowie schließlich Bach ("Schlummert ein") gepaart mit Offenbach ("Bonne nuit").
Gute Nacht? Das Ende ist zäh und im Grunde recht spießig-gutmenschenhaft. Nur von Otters Großherzogin bleibt sich treu: Von Gewehren bedeckt rezitiert sie den Oktavian aus dem "Rosenkavalier": Wie du warst! Das weiß niemand. Das lässt sich auch ein wenig über den gesamten Abend sagen.