Am Werk vorbei ins Nichts

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (30.05.2006)

Aida, 28.05.2006, Zürich

Giuseppe Verdis «Aïda» enttäuscht in der Regie wie im Dirigat. Die Erwartungen ans teure Sängeraufgebot erfüllt nur Luciana D’Intino.

«Vergogna!» («Schande!»), rief die Dame mit dem Spitzentaschentuch in Reihe 2 nach einem Abend des Kopfschüttelns. Zu Recht, denn Zürichs neue «Aïda» ist harmlos wie eine Blindschleiche und so schlecht beziehungsweise uninszeniert, dass jeder Sängerstar in Zukunft ohne eine Probeminute einspringen kann. Singen kann man auch, wie einem der Schnabel gewachsen ist, ist doch Adam Fischer nicht mehr als ein Platzhalter am Dirigentenpult. Oder hat man ihm zu wenig Probentage gegeben? Jedenfalls erreicht Fischer weder Geschmeidigkeit im Lyrischen noch Klarheit in den grossen Tableaus. Eine Verbindung von Orchester und Sängern, eine Linearität im Ausdruck, bleibt Wunschdenken.

Das Hauptärgernis ist die Regie eines gewissen Nicolas Joel. Sein vermeintlich kühner Griff ist es, das Geschehen aus dem alten Ägypten in die Zeit der Entstehung der Oper, in die Ära Napoleons III., in den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland im Jahr 1870, zu versetzen - optisch jedenfalls: Die Ägypter spielen die Franzosen, die Äthiopier die Deutschen. Joel will damit zeigen, dass das Geschehen zeitlos ist. Mit Verlaub: Selbst wenn in Verona Pyramiden und Elefanten auf der Bühne standen, hatten wir schon einmal den Verdacht, dass die «Aïda»-Thematik (Liebe, Eifersucht und Ruhmeswunsch) zeitlos sein könnte. In Zürich tappen die Protagonisten in einen schicken Salon (Bühne Ezio Frigerio), singen sich an und gehen wieder ab. Wenn nicht mehr gesungen wird, ist die Oper aus.

Da nun Aïda offenbar eine deutsche Sklavin ist, hat man konsequenterweise eine im deutschen Fach bewährte Sängerin dafür ausgewählt. Nina Stemme gibt ihr Aïda-Debüt - und scheitert. Klug singt sie zwar, formt überaus edel, schwingt sich spielend unter einem achttaktigen Bogen von einem Piano ins Forte und wieder zurück. Aber jede Regung ist berechenbar. Die «Parola Scenica», diese so wichtigen halb gesprochenen, halb gesungenen Passagen, verliert ihre Kraft, ist ohne Effekt. Kommt hinzu, dass Stemmes Sopran die Geschmeidigkeit fehlt. Im Schlussduett mit Radamès (Salvatore Licitra) zeigt sich das eklatant, wenn der Tenor nektarsüsse Legati singt, Stemme hingegen knochentrockene Phrasen formt.

Aïdas Gegenspielerin Amneris zeigt noch viel besser, wie anders italienische Oper klingen muss: Bei Luciana D’Intino lebt jede Silbe. Ist sie zornig, schleudert sie ihre Töne ins Opernrund; schmeichelt sie, vergiesst sie Honig. Jeder Blick, jede Geste ist kraftvoll. Auch Licitra könnte stimmlich genauso viel, doch müsste ihm ein Dirigent den Weg deuten: Vor fünf Jahren, als er Riccardo Muti - und Muti ihm - durchs Verdi-Jahr 2001 verhalf, war er bestens aufgehoben. Jetzt meint er, es genüge, mit seiner schönen Stimme zu bluffen und mal etwas lauter, mal etwas leiser zu singen. Das ist Wunschkonzert, aber nicht Verdi. Von der einst so schönen Baritonstimme des Juan Pons (Amonasro) ist nicht mehr viel übrig, Veteran Matti Salminen (Ramfis) kann immerhin noch gut Italienisch.

Erst neun Jahre ist es her, da gab es von einer neuen, ebenfalls gescheiterten Zürcher «Aïda» zu berichten. Allerdings zeigte das damalige Leitungsteam Nikolaus Harnoncourt/Johannes Schaaf eine radikale «Aïda». Da Intendant Alexander Pereira nun schon fünfzehn Jahre am Haus ist und, die Sponsoren befriedigend, Neuproduktion an Neuproduktion reiht, muss er sich öfters wiederholen, zeigt dabei aber immer weniger Mut und geht kein künstlerisches Risiko mehr ein. Das ist eine Bankrotterklärung für die Opernkunst.