Anna Kardos, Tages-Anzeiger (29.12.2009)
Wenn Cesare Lievi Regie führt, kommt selbst der «Barbiere di Siviglia» nicht ungeschoren davon. Ausser man schliesst die Augen.
Die Ouvertüre war von ausgesuchter Feingestaltung. Nun öffnet sich der Vorhang im Zürcher Opernhaus und gibt den Blick frei auf die moderne Bühne. Im Vordergrund eine Escher’sche Positiv-negativ-Treppe. Welch schöne Idee, das Spiel mit der Optik dreidimensional werden zu lassen! Diener Fiorello (Davide Fersini) singt beherzt, sein Herr Lindoro (Javier Camarena) gar in zartesten, erlesensten Tönen. Das werden drei tolle Opernstunden werden mit Barbiere & Co. Natürlich, die Charaktere haben keinen wirklichen Tiefgang, bleiben viel eher in der Commedia dell’Arte verhaftet. Doch Rossini lässt sie mit virtuosem Dreh aufeinanderprallen, sich witzige Dialoge um die Ohren pfeffern, in absurde Situationen stolpern - oder auch mal über die eigenen Füsse. Was immer sie jedoch tun, sie tun es mit dem gewissen Fünkchen italienischer Eleganz. Was also kann an einem solchen Abend schiefgehen?
Regisseur Cesare Lievi nun hat das Talent, aus ganz wenig ganz viel zu machen. Oder ist es umgekehrt: aus zu vielen Ideen zu wenig? Das fängt schon bei den Figuren an. Die wissen nicht so recht, was sie sein sollen. Etwas ziellos hantiert Lindoro mit seinen Bücherpaketen, derweil «il Barbiere» bunte Perücken durch die Luft wirft. Zu allem Übel fährt auch noch der alte Bartolo planlos mit einer lila Gerte am Körper seines jungen Mündels Rosina herum. Der «alte lüsterne Trottel» wird zum alten lustlosen Trottel. Und Mündel Rosina wird auf halbem Weg zur «jungen selbstbestimmten Frau» gestoppt, da sie doch mal als Lustobjekt, mal als verwöhntes Püppchen hinhalten muss.
Rosina alias Serena Malfi agiert im engen Rahmen keck und frisch. Doch ihr Entflammen für Lindoro - wer kann ihm glauben? Javier Camarena als Lindoro versucht sich in den bewährten Typus des jungen tenoralen Liebhabers zu retten. Doch die Liebe der beiden erscheint hölzern. Werden sie sich bekommen? Das kümmert einen so wenig, wie es die Figuren zu kümmern scheint. Sogar Figaro, ursprünglich der Drahtzieher, wird dekonstruiert. Statt über allem steht er häufiger neben allem.
Was bei der Rollenführung beginnt, wird nicht besser beim dramaturgischen Bogen, der Chemie zwischen den Figuren, den Videoprojektionen. Selbst Mario Bottas Bühnenbild hat sein bestes Pulver mit der ersten Szene verschossen und steht fortan als quasi erratischer Block in der Gegend herum.
Ähnlich erratisch bleibt die Komik. «Das ist eine Opera buffa, also muss Humor her», scheint die Devise zu sein. Von absurden Effekten wie bei Monty Python über Running Gags oder Mister Bean’sche «Entpeinlichungsmechanismen» wird alles ausgebreitet - und dann ohne Kontext oder Timing im Raum stehen gelassen. Das ist abwechselnd bedauerlich oder fad. Vor allem, weil ständig präsent ist, wie sprühend, wie differenziert die Oper auch sein könnte.
«Schuld» daran ist die Musik. Und mit ihr die Sänger und Dirigent Nello Santi. Vier Neuinszenierungen des «Barbiere» hat dieser allein am Zürcher Opernhaus geleitet. Doch verwaschen haben sich die Farben der Musik für ihn nicht. Im Gegenteil: Da krächzt das Orchester in karikierten Szenen «sul ponticello», die Instrumentalstimmen erhalten eigenständige Konturen, Wichtiges wird betont. Farbig ist das und weit entfernt von tumultuöser Opernseligkeit. Auch das Sängerensemble darf in der Musik aufblühen. Von der schillernd-zarten Gestaltung bei Javier Camarena, dem strahlend-gewichtigen Bariton Massimo Cavallettis (Barbiere) über Serena Malfis musikalische Natürlichkeit bis zu Carlos Chaussons warmem Bass - Rossini at his best. Schade nur, dass man die Augen schliessen muss, um zu merken, was auf der Bühne eigentlich passiert.