Bilder ohne Mysterium

Marianne Mühlemann, Der Bund (25.01.2010)

Les Dialogues des Carmélites, 23.01.2010, Bern

Herausragende Vokalbesetzung in einer zwiespältigen Inszenierung: Francis Poulencs Oper «Les Dialogues des Carmélites» im Stadttheater Bern erntet Bravo- und Buhrufe – zu Recht.

Nach knapp drei Stunden saust das Fallbeil das erste Mal nieder. Sssst – taktgenau hat Francis Poulenc die Stelle in der Partitur notiert. Und eigentlich müsste sie einem das Blut in den Adern stocken lassen. Einmal, zweimal . . . sechzehn Mal fällt die Guillotine.

Das dumpfe Geräusch des schleifenden Metalls, das den verhaltenen Orchesterklang kurz sich aufbäumen und die gaffende Menge lustvoll erschauern lässt, vermag den immer dünner werdenden «Salve Regina»-Gesang der Karmelitinnen nicht zu erschüttern. Die Frauen stehen aufrecht da, umringt von der tumben Menge. Die Todesangst haben sie überwunden. Sie singen wie in Trance weiter, während eine nach der andern hingerichtet wird. Und dann beginnt der Horizont lautlos zu brennen, und die Hymnen der Revolution kommen immer näher, bis der Vorhang fällt.

Francis Poulencs raffiniert instrumentierte Partitur zu «Les Dialogues des Carmélites» entpuppt sich als Requiem voller impressionistischer Schönheit, in der das Aufeinandertreffen von Religion und Französischer Revolution nur den äusseren Rahmen abgibt. Das eigentliche Thema, das die Oper in sich zusammenhält und sie auch zeitlos aktuell macht, ist das Geheimnis einer diffusen Welt- und Daseinsangst, die sich in der Welt und im persönlichen Erleben manifestiert. Fokussiert wird die Angst in der vielschichtigen Figur der Blanche (Rachel Harnisch), die in ihrer inneren Not hofft, im Kloster Ruhe zu finden. Hier trifft sie auf die lebenslustige Constance (Hélène Le Corre), eine Seelenverwandte, mit der sie schliesslich nicht nur ihre Todesangst, sondern zuletzt auch den Tod selber teilt.

Der homosexuelle Poulenc (1899–1963), der nach dem Ersten Weltkrieg zu den jungen Anti-Wagnerianern in Paris gehörte und sich in der «Groupe des Six» um Jean Cocteau für einen neuen pointierten Ausdruck in der Musik engagierte, hat die «Carmélites»-Oper Anfang der 1950er-Jahre im Auftrag von Ricordi für die Mailänder Scala komponiert, in einer Zeit, als er nach dem Unfalltod seines Lebenspartners im Glauben Trost suchte. Die unmittelbar eingängige Musik bietet eine bewegte Folie für die französischen Dialoge und lateinisch-liturgischen Chortexte.

Berührend in ihrer packenden Schlichtheit zeigt sich die Handlung. Sie beruht auf dem historisch verbürgten Massaker von 1794 an den Ordensschwestern von Compiègne: Die Karmelitinnen wollten sich der Säkularisierung durch die Französische Revolution nicht beugen und gingen gemeinsam in den Tod. Eindringlich sind die tiefsinnigen Gedanken und mystischen Fragen, die Zweifel und Ängste, die Lebens- und Todesangst, die hier in einer mit Leitmotiven aufgeladenen Musik voller suggestiver Klangfarben und Geheimnis geäussert werden. Den Text zu verstehen, ist in diesem Werk zentral, dass es ohne falsches Pathos und ohne künstlich verklärende Süsslichkeit auskommt, eine Qualität, die bemerkenswert ist.

Dunkle Seelentiefe

Der Chor und der Extrachor des Stadttheaters Bern (Einstudierung Alexander Martin) sowie die zahlreichen Solistinnen und Solisten (u. a. Kristian Paul als Marquis de la Force; Fabrice Dalis als Chevalier) tragen und prägen die spärliche Handlung durch ihre unterschiedlichen Charaktere.

Die Walliser Ausnahmesängerin Rachel Harnisch hat mit der Blanche eine Traumrolle gefunden. Packend ist die Authentizität, mit der sie die Abgründe der Figur stimmlich und gestalterisch auslotet. Ihre Seelenschwester Hélène Le Corre (Constance) wirkt wie ein Gegenstück. Mit ihrem glockenhellen Sopran überzeugt sie durch kindlich-naive Lebensfreude. Die Unabwendbarkeit der Ereignisse spürt sie voraus: «Wir sterben nicht für uns, sondern füreinander.» In weiteren Rollen beeindruckt Claude Eichenberger als stimmgewaltige Mère Marie. Menschliche Grösse gewinnt Fabienne Jost der Rolle der Madame Lidoine ab, sie wird die Nachfolgerin der verstorbenen Priorin Madame de Croissy: Eine expressive Wucht, wie die Berner Sopranistin Ursula Füri-Bernhard die Dramatik dieser grandiosen Altersrolle ausfüllt – und dabei stimmlich und körperlich an die Grenzen geht. «Wie eine Wachsmaske klebt die Angst auf meinem Gesicht. Könnte ich sie mit den Nägeln zerreissen!» Da fühlt man den kalten Schweiss auf ihrer bleichen Stirn und hört im Glockenton das Totenzeichen, das in schnellem Puls zu rasen beginnt.

Das Berner Symphonieorchester (Dirigent Srboljub Dinic) gestaltet das zwischen geistlichem Mysterium und grosser Oper oszillierende Werk mit lebhaften Kontrasten und impulsgebenden Rhythmen. Von den sonoren Tiefen der Bassregister bis ins gleissende Flimmern der Bläser öffnet sich der dynamische Klangraum. Gelegentlich bewegt sich die Lautstärke an der oberen Grenze – die intensivsten Gesangsmomente sind bei Poulenc im Pianissimo.

Besser die Augen schliessen

Die grandiose Musik ist das eine. Die Inszenierung das andere. Vielleicht hätte man besser die Augen schliessen sollen. Als das Fallbeil niedersaust und die Nonnen köpft, erschrickt man – weil einen dieses kollektive Sterben seltsam unberührt lässt. Man nimmt das Schluss-Tableau (Inszenierung Bernd Mottl) zur Kenntnis, das in seiner forcierten Originalität die Spiritualität der Musik und der Handlung sabotiert. Die Schwestern, die vom Fallbeil getroffen werden, bücken sich, ziehen die Schuhe aus, öffnen sich die Haare und stellen sich zu den Gaffenden. Diese sehen wie Karikaturen von Bauarbeitern aus. Männer mit stabilobossgelben Strickmützen und Bierflaschen. Ein szenischer Missgriff, der in seiner Willkür dem Text zuwiderläuft oder diesen sogar der Lächerlichkeit preisgibt.

Auch das Bühnenbild (Alain Rappaport) zeigt eine geradezu monströse Aufdringlichkeit. Ein drehbarer violetter Berg, unappetitlich wulstig mit Treppen und Höhlen, als handle es sich um einen Aussichtsberg in eine aus den Fugen geratene Welt, die jedoch völlig ausgeblendet wird. Wo ist der Schrecken, der die Nonnen antreibt? Wo die Todesangst?

Da werden Souvenirs verkauft und Blumengestecke für die Gräber gebunden. Da wird gestritten, geohrfeigt, geküsst und geklönt und in safranfarbenen Gewändern an Hügelkanten herumgeklettert. Nichts scheint zwingend – ausser der Musik. Diese Böcklin-Toteninsel hat keinen Zauber, wird mehr und mehr zum Ärgernis: In ihren Eingeweiden stehen ein Bigla-Krankenbett, da hängen Neonröhren und grüne Einbauschränke. Und die tote Priorin wird in einem kitschigen Sarg bewacht, über dem wie ein Tannenbaum Partylichter leuchten. Mit Radikalität hat das nichts zu tun, mit persönlichem Regiestil noch viel weniger. Und weshalb muss der alternde Marquis de la Force (Kristian Paul), der Vater von Blanche, im Morgenrock und mit Stöckelschuhen auftreten? Weshalb muss der Beichtvater (Andries Cloete) sein Schwulsein so penetrant zur Schau stellen?

Das Berner Publikum zeigt sich mündig. Für die Musik gibt es Bravos, für das Bühnenbild und die Inszenierung heftige Buhs. Beides zu Recht. Schade um die Musik, die einen zweiten Gang ins Theater durchaus lohnen würde.