Einer vergessenen Verdi-Oper neues Leben eingehaucht

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (01.02.2010)

Alzira, 30.01.2010, St. Gallen

Giuseppe Verdis frühe Oper «Alzira» kam am Samstag in St. Gallen zu ihrer späten Schweizer Erstaufführung. Eine gute Besetzung, ein ungestümer Dirigent und die weitgehende Abstinenz einer Inszenierung waren ihre Kennzeichen.

Auch beim populärsten Opernkomponisten Giuseppe Verdi und seinen 26 Bühnenwerken findet man Stücke, die selten bis gar nie aufgeführt werden. So kam seine achte Oper «Alzira», 1845 für Neapel komponiert, erst am Samstag im Theater St. Gallen zum ersten Mal auf eine Schweizer Bühne. Abgesehen von den Varianten («Jérusalem» statt «I Lombardi», «Aroldo» statt «Stiffelio») wäre nun allenfalls noch «La Battaglia di Legnano» als Schweizer Premiere zu haben (ohne Garantie, jedenfalls stand diese Oper in den letzten Jahren nicht auf Schweizer Spielplänen).

Es geht Schlag auf Schlag

Kurz und knapp, bisweilen fast atemlos, bringt Verdi die zwei Akte mit Prolog in eineinhalb Stunden über die Runden. Schlag auf Schlag folgen sich die dramatischen Höhepunkte. Ein Klima, das der ungarische Dirigent Henrik Nánási in St. Gallen mit unermüdlichem Vorwärtstreiben noch anheizte. Aber es gibt sie auch, die Momente, in denen das Drama ruht und die Emotionen sich ausbreiten dürfen. Wo allerdings der späte Verdi vier, fünf Minuten Zeit dafür reservierte und damit zeitlose Opernmomente schuf, müssen hier eineinhalb Minuten reichen.

Das Thema ist auch hitzig genug: Ein Inkahäuptling und ein spanischer Conquistador kämpfen um dieselbe Frau, mit aller Leidenschaft und allen Mitteln bis hin zu Erpressung und Mord. Die christliche Botschaft vom Verzeihen, die schliesslich zum bei Verdi seltenen Happy End führt, wirkt danach völlig unglaubwürdig und aufgesetzt, aber bevor man sich so recht darüber Gedanken machen kann, ist die Oper auch schon aus.

Erfolg hatte «Alzira» nie und verschwand schnell aus Abschied und Traktanden. Verdi selbst habe die Oper als «wirklich hässlich» bezeichnet. Diese Aussage ist allerdings auf sehr obskuren Wegen in die Musikliteratur gerutscht: als eine - nach Verdis Tod ausgesprochene - Erinnerung einer aristokratischen Klatschtante. Und die St. Galler Produktion räumte das Vorurteil nach der konventionellen Ouvertüre ganz schnell aus dem Weg. Allein die Chöre, seit «Nabucco» eines von Verdis Markenzeichen, lassen mit Drive und Brio die Herzen höher schlagen. Feinheiten der Instrumentierung überraschen immer wieder, genauso wie völlig unerwartete harmonische Wendungen. Und darüber steht eine in der ganzen Operngeschichte vielleicht rekordverdächtige Zuspitzung und Verknappung der dramatischen Handlung.

So viel Liebesleidenschaft und aufpeitschende Kampfgesänge, aber auch Verzweiflung und Resignation in so kurzer Zeit kann sich ein Tenor nur wünschen. Der Mexikaner Hector Sandoval - seit seinen Auftritten bei «Snow and Symphony» kein Unbekannter in der Region - legte nicht nur sein ganzes lateinisches Temperament in die Rolle des leidenschaftlichen Inkas hinein, sondern auch eine kernige, männlich strahlende Stimme, der man gerne mehr dynamischen Spielraum zutrauen hätte können, als ihr vom Dirigenten zugestanden wurde. Zu sehr liess sich Nánási vom rhythmischen Drive zu plakativer Lautstärke anstacheln.

Auch Luca Grassi als sein baritonaler Gegenspieler - stimmlich absolut auf Augenhöhe - zeigte, dass er mehr Ausdrucksnuancen zur Verfügung gehabt hätte, als ihm vom Orchester zugestanden wurden. Beeindruckend sang Tijl Faveyts den alten spanischen Gouverneur, und in der Titelrolle brillierte die irische Sopranistin Majella Cullagh trotz angesagter Bronchitis ohne spürbare Mühe.

Szenische Umsetzung gescheitert

Wenig überzeugend geriet die szenische Umsetzung von Denis Krief, der zugleich für Regie, Bühnenbild, Kostüme und Licht verantwortlich war. Sein dramaturgisches oder ästhetisches Konzept erschloss sich in keinem Moment. Dreieckige Holzkonstruktionen, die von ferne an Inka-Pyramiden erinnern mochten, standen willkürlich auf der Bühne herum, und der Dramatik der Handlung setzte Krief eine Personenführung entgegen, die auf Verlangsamung und Abstrahierung zielte, dies aber in den Köpfen der Protagonisten nicht einpflanzen konnte. Mit dem Ergebnis, dass jeder ein bisschen nach seinem Gusto gestikulierte.