Neptun orakelt aus der Finsternis

Bruno Rauch, Zürichsee-Zeitung (22.02.2010)

Idomeneo, Rè di Creta, 20.02.2010, Zürich

Für Mozarts «Idomeneo» übernahm Dirigent Nikolaus Harnoncourt erstmals selbst die Regie. Seine musikalische Einstudierung ist jedoch überzeugender als seine inszenatorische Leistung.

Für seine dritte intensive Beschäftigung mit Mozarts Geniestreich hatte sich Nikolaus Harnoncourt ein ambitiöses Ziel gesetzt. Anlässlich der «styriarte» 2008 – der Maestro war damals 78 – wollte er die Oper «Idomeneo», die Mozart als 24-Jähriger 1780/81 für München geschrieben hatte, in ihrer Urgestalt, ohne Verstümmelungen und befreit von der in seinen Augen falschen Lesart zeigen. Da offenbar kein geeigneter Regiepartner gefunden werden konnte, übernahm der Dirigent die Inszenierung gleich selbst, zog aber immerhin seinen Sohn Philipp, Regisseur und Lichtgestalter, bei. Jetzt bringt das Zürcher Opernhaus diesen Grazer «Idomeneo» in einer Adaptation für die reduzierten Ausmasse der hiesigen Bühne zur Aufführung: Selbst wenn man diesen erschwerenden Bedingungen Rechnung trägt, überzeugt das Resultat szenisch wenig, wie die Premiere am Samstagabend zeigte.

Sensationelle Virtuosität

Einschneidendster Eingriff beziehungsweise Reverenz ans Münchner Original ist die konsequente Beibehaltung der ausgedehnten Ballettszenen zu den Aktschlüssen. Dadurch wird das Werk von der italienischen Seria weg in die Nähe der französischen Tragédie lyrique gerückt und sein singulärer Charakter im Opernschaffen Mozarts unterstrichen. Schon während der Ouvertüre bietet sich somit ein ungewohntes Bild. Perfekt choreografiert von Heinz Spoerli, fetzen die mit Speeren und Doppeläxten bewaffneten Krieger über die gespenstisch erleuchtete Bühne: die Vorgeschichte, die Schlacht um Troja, bekommt so stilisierte Gestalt. Später werden Neptun (Arman Grigoryan) und sein Gefolge tanzend ins Geschehen eingreifen. Das immer wieder als unaufführbar taxierte Ballettfinale schliesslich steigert sich zu einer abstrakt-visionären Apotheose, zumal mit sensationeller Virtuosität getanzt wird und Mozarts Musik so endlich den ihr zustehenden Platz erhält.

Rolf Glittenbergs Bühnenbild wird linksseitig vom gigantischen Antlitz Neptuns beherrscht. Wesentlicher Bestandteil ist auch der neutrale rückwärtige Prospekt, der in wechselnder Beleuchtung eine stimmige Folie für das Geschehen abgibt: Die Opferung des eigenen Sohnes aufgrund eines in Seenot abgegebenen Eids des Kreterkönigs Idomeneo sowie dessen Lösung durch das göttliche Orakel. Etwas unbeholfen nehmen sich dagegen die vier fahrbaren Stellwände aus, mit klassischer Architektur beziehungsweise arkadischer Naur bemalt, gleiten sie dauernd über das Spielfeld, ohne zwingende räumliche Strukturen zu schaffen.

Konventionelle Gestik

Der archaisch-kruden Handlung vermag die brave Regie kaum adäquaten Ausdruck zu verleihen. Die konventionelle Gestik bleibt weitgehend redundante Bebilderung dessen, was die Musik unvergleichlich dichter mitteilt. Manches wirkt wie der Bodensatz einstiger ponellscher Inszenierungen: etwa der kokett-theatralische Abschied Elettras mit Hutschachteln und Winke-Winke. Oder die vier konzertierenden Bläser auf der Bühne, die Ilias Bittgesang sekundieren. Einiges bleibt schlicht enigmatisch: etwa die zwiespältige Bücherverbrennung, derweil der – warum ausgerechnet blinde? – Seher Arbace (ausgezeichnet: Christoph Strehl) in einem der nuanciertesten Rezitative von Hoffnung für eine bessere Zukunft singt.

Ein starker Moment ist jedoch das Erschallen der Orakelstimme in totaler Finsternis. Dazu erscheint die Sentenz in Leuchtschrift. Danach ist Neptun verschwunden; das vormals vom Fluch drangsalierte kretische Volk promeniert in modischem Weiss als heitere Sommerfrischler im strahlenden Licht. Überhaupt stellen die Kostüme (Renate Martin, Andreas Dornhauser) einen unverfrorenen Stilmix dar.

Zum Glück werden die szenischen Mängel durch die musikalische Intensität aufgewogen. Harnoncourt nimmt die Tempi generell eher langsam, was der aussergewöhnlich reich instrumentierten Partitur Atem und Raum zu Entfaltung bietet. «La Scintilla», die Barock-Fraktion des Opernhausorchesters, begnügt sich nicht mit Schönklang. Sie bezaubert mit delikater, sprechender Feinziselierung und pointiertem Changieren der Klangfarben, was ein geradezu atemberaubendes Licht- und Schattenspiel des Notentexts erzeugt. In dieses hochdifferenzierte musikalische Konzept fügen sich der mit anspruchsvollen Aufgaben betraute Chor sowie die Solisten wunderbar ein.

Verzweifelter Furor

Saimir Pirgu ist ein (zwar etwas zu) jugendlicher Kreterkönig. Aber sein kraftvoller, unverbrauchter Tenor vermag auch der Zerrissenheit der Figur gerecht zu werden, zumal er heroischen Aplomb mühelos mit lyrischem Schmelz zu verbinden weiss. Marie-Claude Chappuis berührt als inniger, fast ein wenig naiver Prinz Idamante.

Die weiblichen Rivalinnen sind Julia Kleiter als Ilia mit leuchtendem, klar geführtem Sopran (aber in unvorteilhaftem Kostüm) und Eva Mei als Elettra, die ihre verletzten Gefühle mit verzweifeltem Furor lodern lässt: Schade, dass sie ihre schon von Mozart gestrichene Abgangsarie nicht singen darf. Immerhin wird ihr nach dem für sie vernichtenden Orakelspruch ein theatralischer Abgang zuteil: Sie reisst den schwarzen Vorhang herunter und rauscht als leibhaftige Furie von dannen.