Leise Liebe, leise Verzweiflung

Susanne Kübler , Tages-Anzeiger (22.02.2010)

Idomeneo, Rè di Creta, 20.02.2010, Zürich

Mit Mozarts «Idomeneo» präsentiert sich der Dirigent Nikolaus Harnoncourt erstmals auch als Regisseur - am Samstag im Opernhaus.

Der Himmel ist zufrieden, die Liebenden dürfen sich küssen, der Vorhang fällt. So enden die meisten Aufführungen von Mozarts «Idomeneo» - aber nicht in Zürich. Hier folgen aufs Happy End ein viertelstündiges Ballett und ein Schlussbild, bei dem alle noch einmal strahlen dürfen: das Volk ebenso wie die Protagonisten, für die es gut herauskommt in dieser Oper. Und etwas später, beim herzlichen Applaus, auch der Dirigent Nikolaus Harnoncourt, der zusammen mit seinem Sohn Philipp gleichzeitig der Regisseur ist.

Sie strahlen zu Recht, der Coup ist gelungen an der Premiere vom Samstag. Mozarts «Idomeneo», der traditionell als italienische Opera seria verstanden wird, hat sich als französische Tragédie lyrique entpuppt. Weil das Ballett eben nicht nur, wie oft beklagt, als Anhängsel am Schluss verstanden wurde, sondern sich schon vorher ins Geschehen einmischt. So besteht das Volk nicht nur aus dem Chor, sondern auch aus Tänzern. Der opfersüchtige Neptun tritt als blaue, fabelhaft tanzende Fabelfigur leibhaftig auf (Arman Grigoryan). Und selbst die Musik tanzt: mal bedächtig, dann wieder lebhaft, nie überdreht - das grossartige Orchestra La Scintilla darf ebenfalls strahlen.

Intimes Drama

Schon einmal, 1980, hat Nikolaus Harnoncourt in Zürich einen «Idomeneo» präsentiert. Es war der Auftakt zum Mozart-Zyklus, den er wie zuvor den epochalen Monteverdi-Zyklus mit dem Regisseur Jean-Pierre Ponnelle realisierte. Bereits damals hatte man einen unbekannten «Idomeneo» entdecken können, eine ungemein dramatische Musik, die donnerte und blitzte (auf CD ist die Wirkung bis heute fulminant).

Auch diesmal, bei der 2008 in Graz erarbeiteten und leicht erneuerten Aufführung, donnert und blitzt es - aber das Drama hat sich nach innen gewendet. Ganz leise besingt Idamante seine Erschütterung, nachdem ihn sein Vater Idomeneo weggejagt hat. Auch Idomeneos «Fuor dal mar» klingt nicht wie so oft nach Tenor-Spektakel, sondern nach der fast sprachlosen Verzweiflung eines Vaters, der sein Kind töten muss, weil er selber leben wollte. Leise gestehen sich Idamante und Ilia ihre Liebe (es ist eine der schönsten Liebeserklärungen der Operngeschichte). Der Chor braucht kein Fortissimo, um höchste Expressivität zu erreichen, und die Blechbläser schaffen auf historischen Instrumenten das Kunststück, nicht zu schmettern, aber auch nicht zu kieksen. Selbst «La voce» (Pavel Daniluk), die Stimme aus dem Irgendwo, die zuletzt Idomeneos Schwur aufhebt und die glückliche Wende ankündigt, dröhnt nicht.

Die Wirkung ist frappant, weil das Drama so zur ganz intimen Angelegenheit zwischen den Figuren wird und weil diese Figuren dieses Drama darzustellen wissen. Gesungen werden sie von denselben, die schon in Graz auf der Bühne standen, aber es klingt alles wie frisch erlebt. Marie-Claude Chappuis verzichtet in der schwierigen Hosenrolle des Idamante auf jede theatralische Virilität; sehr jung, sehr unschuldig, sehr glaubwürdig wirkt sie, und sie hat dabei jenen langen Atem, den Mozart beim Kastraten der Münchner Uraufführung 1781 so schmerzlich vermisste. Ihr gegenüber steht einerseits Julia Kleiter als Ilia, die allen Schmerz und alles Glück in ihre Stimme zu legen weiss. Und andererseits Saimir Pirgu als Idomeneo, der sich locker durch die Koloraturen singt und nie den emotionalen Gehalt dabei vergisst. Schliesslich ist da noch Elettra, die in Idamante verliebt ist, die triumphiert über ihre scheinbar gemeinsame Reise und tobend abtritt, als es doch nicht dazu kommt. In der Regel tut sie das mit einer spektakulären Arie, die Mozart aber bereits vor der Uraufführung gestrichen hatte und auf die nun auch Harnoncourt verzichtet. Weniger Show, mehr Tempo in der Erzählung: Für diese Aufführung ist es zweifellos die richtige Entscheidung, und Eva Mei kommt auch ohne diese Arie zum Zug. Ihre Elettra wird ins Komische gewendet - wenn sie mit Dutzenden von Koffern ihre Reise antritt, wenn sie davor noch huldvoll viele, viele Hände drückt oder einem Orchestermusiker ins Ohr flötet.

Auch das gehört zu dieser Aufführung: Die Grenze zwischen Bühne und Orchestergraben ist aufgehoben. Mal bringt ein Bläserquartett Ilia und Idomeneo ein Ständchen, dann wieder gehen Figuren durchs Orchester ab. Auch sonst wächst die Inszenierung nicht nur in den Tanzszenen aus der Musik heraus; sie übernimmt ihr Tempo, ihre Farben, ihren mitreissenden Fluss, ihre präzise Dynamik.

Starke Choreografien

Das ist die Stärke und gleichzeitig das Problem der Regie. So grandios der musikalische Bogen über die dreieinhalb Stunden hin trägt, so sehr zerfällt das Bühnengeschehen. Der von Rolf Glittenberg entworfene riesige Neptunkopf, die verschiebbaren Säulen- und Gartenwände, die mal historisierenden, dann wieder modernen Kostüme von Renate Martin und Andreas Donhauser: Das wirkt zusammengewürfelt. Auch eine interpretatorische Stossrichtung ist kaum auszumachen; in manchen Szenen steht das Theater im Vordergrund (etwa bei Elettras Auftritten), dann wieder die sozialkritische Aussage (wenn vier Leichen daran erinnern, dass schon viele gestorben sind, weil der Königssohn gerettet werden soll).

Die stärksten Szenen sind damit jene, die Heinz Spoerli choreografiert hat: Wie Schattenrisse kämpfen die Figuren vor hell erleuchtetem Hintergrund, gleich achtfach hüpft das grausige Monster durch das erschreckte Volk - und das finale Ballett ist mit seinem Mix aus klassischen und modernen Mitteln so schön, wie es sich ein höfisches Paar zu Zeiten der Tragédie lyrique für seine Hochzeit vielleicht gewünscht hätte.