Sichtbares Psychodrama

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (01.03.2010)

Eugen Onegin, 26.02.2010, Bern

Tschaikowskys Oper «Eugen Onegin» unter der Regie von Yona Kim am Stadttheater Bern

Das Stück ist keine Nationaloper. Anders als Modest Mussorgsky in «Boris Godunow» entfaltet Pjotr I. Tschaikowsky fünf Jahre später in «Eugen Onegin» eine Handlung, die auf Staatsaktionen verzichtet und ganz auf das Privatleben der Protagonisten ausgerichtet ist. Während Mussorgskys Titelheld daran zugrunde geht, dass er den Zarenthron nur durch die Ermordung des rechtmässigen Prätendenten besteigen konnte, zerbricht Eugen Onegin an einer nicht realisierbaren Liebe. Den Liebesbrief Tatjanas, der Tochter einer Gutsbesitzerin in der russischen Provinz, beantwortet der Mann von Welt mit einer schnöden Absage. Als er ihr nach Jahren des Umherirrens wieder begegnet, begehrt er sie leidenschaftlich, doch die inzwischen Verheiratete weist ihn, entgegen ihren Gefühlen, zurück.

Bücher und Türen

In ihrer ersten Regiearbeit am Stadttheater Bern führt die junge Südkoreanerin Yona Kim «Eugen Onegin» konsequent als privates Seelendrama vor. Im Vordergrund steht die gegenläufige psychische Entwicklung der beiden Hauptfiguren. Dabei versteht es die Regisseurin ausgezeichnet, die inneren Vorgänge konkret sichtbar zu machen. Tatjanas Liebe zeigt sie als eine literarisch imaginierte, indem sie die Statisterie mit Büchern ausstattet. Als sich Tatjana in der grossen Briefszene dem Angebeteten restlos anvertraut, öffnen sich die vielen Türen des Saals, und helles Licht strömt von aussen in den Raum. Onegins Rückzug beim Rendez-vous mit Tatjana deutet Kim als Reaktion eines Casanovas, der zuvor die Oberweite der anwesenden Landmädchen gemustert hat. Einen Fremdkörper im Geschehen bilden indes die stummen Rollen der schwarzgekleideten jungen Leute, die Musikstudenten darstellen und wohl als Anspielung auf Tschaikowskys missglückte Ehe mit einer Studentin des Moskauer Konservatoriums gemeint sind.

Das Bühnenbild von Ben Baur, ein repräsentativer heller Saal, bleibt in allen Szenen dasselbe; mit nur wenigen Requisiten werden die Ortswechsel angedeutet. Selbst das Duell zwischen Onegin und Lenski findet in diesem Rahmen statt. Der äussere Raum gerät so zum Spiegel der inneren Räume der Figuren. Und auch die Kostüme von Julia Hansen, die in eine undefinierbare historische Zeit verweisen, sind dem Prinzip des Sichtbarmachens von Seelenzuständen verpflichtet.

Raffiniertes Doppelspiel

Weil es nicht um «das Russische» geht, stört es auch nicht, dass die Rolle Eugen Onegins vom Engländer Robin Adams verkörpert wird. Mit seinem modulationsfähigen Bariton zeichnet er den Wandel vom liebes- und freundschaftsunfähigen Einzelgänger zum verzweifelt Werbenden in eindrücklicher Art. Die Tatjana der Russin Tamara Alexeeva ist anfänglich als weltferne, bebrillte Leserin keine Sympathieträgerin, gewinnt aber stets an Statur und wächst im dritten Akt als zerrissene Fürstin Gremin über sich hinaus. Als geradliniger und einfacher Charakter mit phänomenalem Tenor präsentiert sich Peter Wedd als Onegins Freund Lenski, der mit Tatjanas Schwester Olga verlobt ist. Natasa Jovic zeichnet diese Olga gekonnt als eine Frau, die mit Lenski und Onegin ein raffiniertes Doppelspiel treibt.

Der Chor des Stadttheaters Bern verleiht den Auftritten der Landarbeiter und Ballgästen Glanz und Durchschlagskraft, gegenüber dem Orchester singt er aber gelegentlich hinterher. Dem Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Srboljub Dinić gelingt die Umsetzung von Tschaikowskys psychologisierender Tonsprache in einer Art, die Wesentliches zum Verständnis des Geschehens beiträgt. Gewisse Mängel zeigen sich allerdings in der rhythmischen Präzision und in der Homogenität des Streicherklanges.