Oliver Meier, Berner Zeitung (01.03.2010)
Abgründiges Kammerspiel: Die südkoreanische Regisseurin Yona Kim bringt Tschaikowskis Oper «Eugen Onegin» auf die Bühne des Stadttheaters. Eine ansprechende Inszenierung, getragen von einem glänzenden Ensemble.
Beschwingt nimmt die Polonaise ihren Lauf, beschwört im Dreivierteltakt die Vergnüglichkeit herauf. Es ist der Beginn des letzten Akts. Von einem Salon spricht das Libretto, und von einem grossen Ballsaal mit tan-zenden Paaren. Doch auf der Bühne ist nichts davon zu sehen. Die Regie führt uns in die Ab-gründe einer Figur: Verzweifelt beugt sich Eugen Onegin (Robin Adams) über den toten Lenski (Peter Wedd). In einem absurden Duell hat er am Ende des zweiten Akts seinen Dichterfreund er-schossen. Jetzt zerrt er an dessen Beinen, umarmt ihn, fassungslos darüber, was er angerichtet hat. Mit nacktem Oberkörper und leerem Blick sitzt er schliesslich am Bühnenrand. Erst als die vergiftete Polonaise verklingt, tritt die erwartete Salonwelt doch noch in Erscheinung.
Fatale Eifersucht
Eugen Onegin, der Antiheld in Tschaikowskis populärster Oper: Als Dandy schlechthin ist er in die Geschichte eingegangen. Und so geistert er auch gemeinhin über die Opernbühnen: Als blasierter Snob, der im Landhaus von Gutsherrin Larina die Liebe der jungen Tatjana entfacht und gnadenlos zurückweist; der bei Tatjanas Namensfest mit ihrer Schwester Olga flirtet und seinen Freund Lenski zur fatalen Eifersucht treibt; als Geläuterter schliesslich, der sich Jahre später in St.Petersburg vergeblich um die verheiratete Tatjana bemüht, obwohl sie ihn noch immer liebt.
Es ist eine Schicksalsgeschichte um verpasste Chancen und gescheiterte Beziehungen. Regisseurin Yona Kim inszeniert sie als spannungsvolles Kammerspiel jenseits von biederem Realismus – mit historischen Kostümen zwar (Julia Hansen), doch meist nur wenigen Requisiten. Die offene Bühne (Ben Baur) bietet den Figuren keinerlei Schutz: Ein hoher Raum ist da zu sehen, weiss getüncht und leicht verschlissen, mit riesigen Fenstern und Türen. Ein Raum, in dem sich Innen- und Aussenwelt überlagern: Immer wieder öffnet Yona Kim den Blick hinter die Fassaden der Hauptfiguren, stülpt deren Befindlichkeiten gleichsam nach aussen. In den besten Momenten entstehen so eindrückliche Bilder von der Unbehaustheit und vom Ausgeliefertsein der Protagonisten. Allerdings wird die symbolhafte Zeichen- und Körpersprache mitunter derart überspitzt, dass die Inszenierung ins Plakative abzurutschen droht – so im ersten Akt, wenn sich Tatjana als Zeichen der Liebesinitiation von ihrem mädchenhaften Haarzopf verabschiedet.
Transparentes Klangbild
Yona Kims Regiedebüt am Stadttheater zeigt die Figuren als Getriebene in einem unaufhaltsamen Strom. Fast filmisch hält sie die tableauartigen Szenen in Bewegung, mit Überblendungen auch über die Aktgrenzen hinweg. Und das Berner Symphonieorchester fügt sich ausgezeichnet in das Regiekonzept ein: Ein überzeugender Auftritt trotz der mitunter mangelhaften Koordination zwischen Orchester und Solisten. Dirigent Srboljub Dinic verzichtet auf fiebrige Dramatik und grosse romantische Gesten. Mit getragenen Tempi schafft er eine kammermusikalische Transparenz, die Ungehörtes zu Tage fördert.
Bestechend präsentieren sich die Solisten, und zwar bis in die Nebenrollen hinein – keine Selbstverständlichkeit am Stadttheater. Im Zentrum steht das Quartett der Gescheiterten: Peter Wedd als romantischer Dichter Lenski gestaltet seine Rolle ebenso facettenreich wie Natasa Jociv ihre Olga, die zur Mitschuldigen am Tod ihres Geliebten wird. Stimmlich überragend zeigt sich Tamara Alexeeva als Tatjana: Mit grosser Intensität gestaltet sie die berühmte Briefszene, die zum Höhepunkt des Abends wird. Die spätere Ehefrau nimmt man ihr allerdings eher ab als den verträumten Teenager, der sich in eine ekstatische Liebe hineinsteigert. Und Onegin? Fernab von blasierter Kälte zeigt ihn Robin Adams als Aussenseiter, der mit sich selber ringt und sich nicht auf das Leben einlässt, bis ihn eine grenzenlose Dummheit dazu zwingt.