Verhängnisvolle Vaterliebe

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (20.04.2010)

Luisa Miller, 18.04.2010, Zürich

«Luisa Miller» von Giuseppe Verdi als Premiere im Opernhaus Zürich

«Es ist ein grossartiges Drama, voller Leidenschaft und theatralisch sehr effektvoll.» So lautete Giuseppe Verdis Urteil, als er sich entschloss, Schillers «Kabale und Liebe» zu vertonen. Was der Komponist über das «Bürgerliche Trauerspiel» sagte, gilt auch für die Opernfassung. Allerdings sind die Gewichte darin ganz anders verteilt als in der Vorlage. Verdis Thema ist nicht der flammende Protest gegen den fürstlichen Absolutismus, sondern die Liebe zweier junger Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus, die am Besitzanspruch der beiden Väter zugrunde geht. Das sind, immer wieder, die grossen Themen, die Verdis Schöpferkraft inspirierten: die Beziehung zwischen Vater und Sohn oder Vater und Tochter und die Freiheit des Individuums.

Dass ihn dieser Stoff im Innersten berührte, davon zeugt seine Musik zu «Luisa Miller» vom ersten Takt an. Wohl ist seine Tonsprache hier noch nicht so verfeinert wie im wenig später entstandenen, thematisch mit der Schiller-Adaptation eng verwandten «Rigoletto», doch an Gefühlsgehalt, melodischer Erfindungskraft und dramatischer Kompaktheit steht «Luisa Miller» diesem kaum nach. Das bestätigte sich bei der Premiere im Zürcher Opernhaus. Massimo Zanetti und das Orchester der Oper Zürich lassen es weder an dramatischem Impetus noch an Sorgfalt der Detailgestaltung fehlen. Zanettis Dirigat hält eine glückliche Mitte zwischen Straffheit und Geschmeidigkeit und lässt die Sänger atmen, ohne sie unter Druck zu setzen. Damit gibt er ihnen auch Raum für leisere Töne.

Klar lesbar und doch unkonventionell

Für die Inszenierung zeichnet das Team Damiano Michieletto (Regie), Paolo Fantin (Bühne) und Carla Teti (Kostüme), das sich im Opernhaus bereits mit Donizettis «Lucia di Lammermoor» und Verdis «Corsaro» profiliert hat. Auch in dieser jüngsten Arbeit hat es einen Interpretationsansatz gefunden, welcher das Stück in einer ästhetischen Bildsprache klar lesbar macht, ohne in konventionelle Muster zu verfallen. Fantin hat die Bühne mit einer zweigeteilten Wand umkleidet, der obere Teil verweist auf die höfische Welt des Grafen von Walter, der spiegelbildlich angeordnete untere auf die kleinbürgerliche des alten Soldaten Miller. Um die zentrale Drehbühne sind zu Beginn zwei Betten und zwei Tische mit Stühlen angeordnet, je in einer luxuriösen und einer bescheidenen Ausführung. Auf dem einen Bett liegt Luisa, auf dem andern Rodolfo, an den Tischen sitzen die Väter, Walter mit einem kleinen Knaben, Miller mit einem Mädchen. Damit ist die Personenkonstellation vorgezeichnet. Die Beziehung der Väter zu den zwei Kindern verläuft parallel, beide wollen sie sie nach ihren eigenen Wunschvorstellungen formen. Was für Miller die bürgerliche Ehre, ist für Walter der Machterhalt. Nur in ihren Methoden unterscheiden sie sich. Miller erpresst Luisa mit seiner Liebe, Walter bedient sich der durch Wurm eingefädelten Intrige, um Rodolfo von Luisa zu trennen und mit der einflussreichen Duchessa Federica zu vereinen. Luisa und Rodolfo können sich dabei nie von ihrer Kinderrolle befreien, das zeigt der Regisseur, indem er den Knaben und das Mädchen immer wieder auftreten lässt und am Schluss durch sie eine utopische Zukunftsperspektive eröffnet: Während Luisa und Rodolfo für ihre Liebe gestorben sind, umarmt sich das Kinderpaar.

Schönheitsfehler

Fantins Bühne, realistisch mit surrealen Elementen, mehrmals modifiziert und manchmal etwas überdekoriert durch bewegliche Wände und Videoprojektionen, ist für ein Kammerspiel angelegt, und als solches hat Michieletto die Verdi-Oper tatsächlich inszeniert (der Chor hat nur Beobachterfunktion). Die Personenzeichnung bleibt allerdings etwas summarisch, die Aufführung lebt mehr von der Persönlichkeit der Sänger als von den Charakteren des Werks. Und da ist es einmal mehr Leo Nucci, der als Miller mit seiner natürlichen Präsenz, seinem warmen, immer noch satten Timbre und seiner exemplarischen Technik den Massstab setzt. Barbara Frittolis Luisa wünschte man sich in den ersten zwei Akten mädchenhafter, auch stimmlich leichter. Doch im Schlussakt kann sich ihr dunkel getönter, kraftvoller Sopran eindrücklich entfalten.

Mit einem in allen Lagen mühelos ansprechenden, elegant phrasierenden Tenor wartete Fabio Armiliato als Rodolfo auf – bis ihm ganz am Schluss des ersten Aktes die Stimme plötzlich versagte. Dank medikamentöser Behandlung konnte er die Vorstellung trotzdem zu Ende singen, nun aber mit hörbarer Kraftanstrengung. Wie bei der letzten Zürcher «Luisa Miller» verkörpert László Polgár den Grafen von Walter. Sein Bass ist in der Höhe matter geworden, verströmt aber nach wie vor Autorität und Würde. Den Mörder nimmt man diesem Walter allerdings nicht ab. Aber auch Ruben Drole als Wurm ist mit seinem weichen, runden Bariton nicht der geborene Bösewicht, daran vermögen die Mephisto-Maske und die reptilienhafte Körpersprache nichts zu ändern. Ähnliches gilt für Liliana Nikiteanu, deren agiler Mezzosopran für die Eifersuchtsszene der Federica zu wenig dramatisches Potenzial aufbringt. Solche Schönheitsfehler tun der Gesamtwirkung der mit ungeteiltem Beifall aufgenommenen Produktion indessen keinen Abbruch.