Susanne Kübler , Tages-Anzeiger (20.04.2010)
«Luisa Miller» ist nicht Verdis bestes Werk. Aber der Komponist zeigt hier schon seinen eigenen Weg auf. Und Damiano Michieletto (Regie) und dem Dirigenten Massimo Zanetti gelingt am Opernhaus Zürich eine rundum überzeugende Aufführung.
Die Mächtigen wohnen in weissem Täfer, fürs Volk gibts graue, unverputzte Wände und Holzstühle. Sauber getrennt sind diese Welten, und doch bedingen sie einander. Paolo Fantin hat sie deshalb auf der Bühne des Zürcher Opernhauses übereinandergebaut, die eine als Spiegelbild der anderen. Es ist kein realistischer Raum, in dem Verdis Version von Schillers «Kabale und Liebe» da stattfindet, aber er macht sofort klar, dass die Liebe von oben nach unten keine Chance hat. Es führt kein Weg durch die kopfstehenden Türen.
Das liegt an der Gesellschaft, und es liegt an den Vätern. Ach, diese Väter! Der alte Miller will nur das Beste für seine Tochter beziehungsweise den Besten, und das ist ganz bestimmt nicht der Sohn des Grafen Walter, der sich für einen anderen ausgibt. Der Graf wiederum will ebenfalls nur das Beste für seinen Sohn, also eine gute Partie und ganz bestimmt kein Mädchen aus dem Volk.
Dass ihre Kinder sich längst für die «falsche» Liebe entschieden haben, nehmen sie so wenig zur Kenntnis wie die Tatsache, dass Luisa und Rodolfo erwachsen sind. Für ihre Väter sind sie immer noch klein, und auch wenn der Trick mit den Kinder-Doubles in der Opernregie inflationär eingesetzt wird: Hier hat er seinen tieferen Sinn.
Psychologische Feinzeichnung
Das gilt ebenso für alles andere, das Damiano Michieletto eingefallen ist zu diesem Stück. Es ist kein einfaches für einen Regisseur. Was tut man mit dem Chor, der mehr mit der Opernkonvention als mit der Handlung zu tun hat? Wie geht man um mit den aneinandergereihten Arien? Und wie zeigt man, dass der junge Verdi auch in diesem Stück zumindest ansatzweise schon auf psychologische Feinzeichnung aus war? Die Antwort Michielettos ist - wie schon in «Il Corsaro», dem Verdi-Frühwerk, das er zu Anfang der Saison auf die Zürcher Bühne gebracht hat - immer dieselbe: Man bleibt möglichst präzis und stilvoll.
Was das heisst, zeigt zum Beispiel die Figur des Intriganten Wurm, der allen gleichermassen zuwider ist. Als Bote zwischen den Welten richtet er überall Unheil an, gehört aber nirgends dazu: nicht zu den Mächtigen, nicht zum Volk und auch nicht zum damals üblichen Opernpersonal (entsprechend hat Carla Teti ihn nicht grau oder weiss eingekleidet, sondern violett). Er ist das personifizierte Böse, aber ohne mephistophelisches Format. Ein Wurm eben - und dass dieser Wurm auch komische Züge hat, zeigt Ruben Drole mit leicht irren Kopfbewegungen. Dass er ihn dazu mit einer ungemein charismatischen Stimme ausstattet, mag zunächst befremden, macht die Figur aber erst recht unheimlich.
Drole ist nicht der Einzige, der einen grossen Auftritt hat in dieser Aufführung. Barbara Frittolis Luisa beginnt virtuos - und wird, je mehr sie leidet, immer lebendiger, anrührender, facettenreicher. Leo Nucci als Vater Miller setzt weniger auf Stimmgewalt denn auf die Zeichnung eines Charakters mit harter Schale und weichem Kern. Einen harten Kern und einen entsprechend imposanten Bass hat dagegen der Graf Walter von László Polgár. Fabio Armiliatos Rodolfo schliesslich brachte bei der Premiere trotz lädierter Stimmbänder den sehr italienischen, für diese Aufführung vielleicht etwas zu klischeehaften Verdi-Stil ins Spiel.
Denn auch musikalisch werden hier viele Klischees unterlaufen, oder besser gesagt: entlarvt. Ein Kommentator hat «Luisa Miller» einmal als Verdis beste Donizetti-Oper bezeichnet; und tatsächlich klingen die beschwingten Rhythmen oder die Doppelungen der Stimmen durch Blasinstrumente oft nach Donizetti, von dem Verdi auch den Librettisten Salvatore Cammarano übernommen hatte.
Gleichzeitig wird immer wieder klar, wie sehr der junge Verdi schon hier seinen eigenen Weg suchte: Zwar hat ihm Cammarano mit Verweis auf die neapolitanischen Gepflogenheiten die Idee einer zweiten Primadonna ausgeredet; aber die Federica bekommt doch eine weit tiefgründigere Musik, als sie einer Nebenfigur zustehen würde (Liliana Nikiteanus reichhaltiger Alt ist genau richtig dafür, und in einer noch kleineren Rolle kann auch Agnieszka Adamczak glänzen).
Die echte Primadonna, die Luisa, brilliert über weite Strecken mit den üblichen Koloraturen; aber wenn sie auf Wurms Befehl ihre Liebe verleugnen muss, klingt ihre Melodie dank ungewohnter Intervallfolgen wie verbogen. Nach dieser Lüge dann singen die Figuren in einem sehr eigenartigen Quartett a cappella: Auf sich selbst zurückgeworfen sind sie, ohne Unterstützung von irgendwem, auch nicht vom Orchester.
Dieses Orchester weiss unter der Leitung von Massimo Zanetti die Besonderheiten der Partitur zur Geltung zu bringen. Einerseits betont es den Schmelz, andererseits entpuppt sich die Beschwingtheit dank rascher Tempi zunehmend als Fassade, hinter der sich bedrohliche oder tieftraurige Klänge entwickeln können. So braucht Regisseur Michieletto auch am Schluss nicht viel zu tun. Die weissen Lilien, die Luisa verstreut, mag man als nur leicht kitschigen Verweis auf seine «Corsaro»-Inszenierung verstehen. Gestorben wird ohne grosse Gesten, Miller steht bei seiner Tochter, Walter trägt seinen Sohn weg. Die Kinder-Doubles bleiben dagegen zusammen: in einer kleinen, subtilen Utopie.