Eine Novität von 98 Jahren

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (11.05.2010)

Der ferne Klang, 09.05.2010, Zürich

Franz Schrekers packende Oper «Der ferne Klang» am Opernhaus Zürich

Der Oper «Der ferne Klang» war nach ihrer Uraufführung im Jahr 1912 ein Sensationserfolg beschieden, der bis zur Vertreibung Franz Schrekers durch die Nazis andauerte. Heute fragen selbst routinierte Operngänger: «Schreker, wer ist denn das?»

Wenn eine Zürcher Opernpremiere vor teilweise dünn besetzten Reihen stattfindet und der Besetzungszettel «Rollendebüt für alle Beteiligten» vermerkt, muss es sich um eine Uraufführung oder eine Ausgrabung aus der Frühzeit des Musiktheaters handeln.

Bei der Premiere am Sonntag war etwas Drittes der Fall. Die Oper «Der ferne Klang» – schon der Titel ist ein Fanal für die erlesene Klangkunst ihres Schöpfers – war einst ungemein erfolgreich, ist aber ebenso wie ihr Schöpfer Franz Schreker in Vergessenheit geraten. Nicht einzuordnen in die praktischen Schubladen der Konversation über Musik, angesiedelt zwischen Spätromantik, Jugendstil und Neuer Musik und doch nirgends ganz zugehörig.

«Geheimnisvoll-Seelisches ringt nach musikalischem Ausdruck», merkte der 1878 in Monaco geborene Komponist zu seinen Opern an – präziser kann man die Modernität, aber auch das Sperrige, Widerständige seiner Bühnenwerke nicht auf den Punkt bringen. Im «Fernen Klang» geht es um die Liebe eines Komponisten mit Namen Fritz zur jungen Greta, eine Liebe, die durch Fritz’ idealistische Suche nach der absoluten künstlerischen Reinheit im «fernen Klang» auf die Probe gestellt wird. Nachdem Greta, von Fritz verlassen, in die Niederungen der Edelprostitution abgesunken ist, begegnet sie Jahre danach ihrem früheren Bräutigam wieder, der in ihren Armen stirbt.

RÜCKBLENDE. Die Handlung erstreckt sich im Original über 15 Jahre. Regisseur Jens-Daniel Herzog vergrössert die zeitlichen Abstände, wodurch der Todesschluss noch an Tragik hinzugewinnt. Und er legt die Handlung überzeugend als Rückblende aus der Erinnerung von Fritz an. Seine Version des «Fernen Klangs» beginnt schon während der Ouvertüre mit dem alten vereinsamten Fritz, der mühsam an einer Kaffeemaschine hantiert. Dann folgt im ersten Akt die Bettszene des jungen Paars im Mädchenzimmer Gretas.

Im zweiten Akt tauchen wir in die Halbwelt eines venezianischen Bordells mit Greta als Königin der Nacht ein, im dritten stehen der gealterte Fritz und das Wiedersehen mit Greta im Zentrum, die irritierend einer Doppelgängerin ihrer Jugend begegnet. Die Liebesekstase flammt kurz auf, dann stirbt Fritz einen Tristans würdigen Tod. Parallelen zu Wagners Oper und zu Wedekind/Bergs «Lulu» sind ebenso wenig von der Hand zu weisen wie stilistische Anleihen an Puccini und den Schönberg der «Gurrelieder», die Schreker 1913 in Wien uraufführte. Und doch ist «Der ferne Klang» unvergleichlich.

FARBIGKEIT. Die Zürcher Produktion hat das Zeug dazu, eine neuerliche Schreker-Renaissance einzuläuten. Sie ist musikalisch und szenisch so rund und ausgewogen, dass man vergisst, welcher Anstrengungen die Aufführung einer Schreker-Oper heute bedarf. Da ist neben der intelligenten, auch in der Personenführung versierten, in der Bildfindung fast allzu harmlosen Regie und der perfekten Ausstattung von Mathis Neidhardt die musikalische Ausgestaltung durch das sehr präsente Opernhaus-Orchester und den Dirigenten Ingo Metzmacher. Die schillernden Farben von Schrekers Instrumentierung kommen ebenso zur Geltung wie die Glut seiner verzehrenden Melodik.

Dann agiert da ein Sängerensemble, das – mit Juliane Banse und Roberto Saccà an der Spitze – keinerlei Wünsche nach musikalischer Spannung und darstellerischer Stimmigkeit offenlässt. Man darf gespannt sein, ob andere Theater das bevorstehende 100-Jahr-Jubiläum dieses Werks wahrnehmen.