Eine üppige, musikalische Wunderkiste

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (11.05.2010)

Der ferne Klang, 09.05.2010, Zürich

Die Zürcher Erstaufführung von Schrekers «Der ferne Klang» gerät zu einem grossartigen Plädoyer für eine schon fast tot geglaubte Oper.

Mit seiner Oper «Der ferne Klang», zu der er auch das Libretto verfasste, gelang Franz Schreker (1878–1934) 1912 endgültig der Durchbruch. Schrekers Opern wurden in der Folge zum Teil häufiger gespielt als diejenigen von Richard Strauss. Allerdings hielt dieser Erfolg nicht an. Das Theaterglück verliess ihn schon zu Lebzeiten. Bereits in den zwanziger Jahren wirkten Schrekers Werke zunehmend klischiert und passé.

Die erotischen Spannungsfelder in seinen Opern – «Ich bin (leider) Erotomane und wirke verderblich auf das deutsche Publikum», schrieb Schreker 1921 – hatten genau diese «verderbliche» Wirkung verloren. In einer Zeit, da in der Malerei Kubismus und Expressionismus den Ton angaben, wirkte seine Musik wie klingender Sezessionismus: eine Fülle vieltöniger, nicht aufgelöster Klänge, ein «Hinwälzen der Akkorde von Orgelpunkt zu Orgelpunkt, wie von Kissen zu Kissen» (Adorno).

Kommt hinzu, dass Schreker als Librettist seinem Stoff nicht gewachsen war. Was als Ausdruck erschütternder Tragik gemeint sein mochte, ist oft nur Worthülse und erinnert in besonders fatalen Momenten an die blumigen Romanwelten von Hedwig Courths-Mahler. Fast möchte man meinen, dass Jens-Daniel Herzog in seiner grandiosen Zürcher Neuinszenierung genau von diesem Ambiente ausging. Mathis Neidhardts Bühnenbilder vor allem zum ersten und dritten Akt erinnern in ihrer schmucklosen Kleinbürgerlichkeit an die Zeiten kurz vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Suche des Komponisten Fritz nach dem fernen Klang und Gretes Suche nach Fritz wird in der Regie von Jens-Daniel Herzog zu einem hoch spannenden Kammerspiel verdichtet, im Einklang mit dem subtilen Einsatz der Drehbühne, was den Eindruck eines Stationendramas erzeugt und den realen Raum zunehmend ins Symbolische weitet. Nur so ist der zweite Akt, der in einer Bordell-Bar spielt und Grete, das einstmals biedere Bürgermädchen, als Edelkokotte vorführt, überhaupt erträglich. Wenn diese Grete im dritten Akt, nochmals um eine soziale Stufe zur Strassendirne hinabgesunken, wie ein ältliches Fräulein auftritt, das scheinbar nie von der leidenschaftlichen Lust des Lebens gekostet hat, dann wird die Unversehrbarkeit ihrer innersten Seele plötzlich spürbar. Grossartig inszeniert.

23 Rollendebüts

Und grossartig gespielt. Juliane Banse hat sich mit der Partie der Grete in einen Grenzbereich vorgewagt und das Wagnis gewonnen. Darstellerisch ist sie in jeder Bewegung, in jeder auch nur mimischen Andeutung, unmittelbar glaubwürdig, ja mehr noch: berührend. Ihr lyrisch timbrierter, leuchtkräftiger Sopran, auch wenn man ihm da und dort noch etwas mehr Expansionskraft wünscht, passt hervorragend zur Figur, der ja alles Hochdramatische abgeht. Auch Roberto Saccà entwickelt den Komponisten Fritz ganz aus dem lyrischen Bereich seiner Tenorstimme, was nicht zuletzt der Verständlichkeit zugute kommt. Er wartet mit durchschlagskräftigen hohen Tönen auf. Auch das ein faszinierendes Rollendebüt.

Sämtliche 23 Sängerinnen und Sänger sangen ihre Partien zum ersten Mal. Umso bemerkenswerter, wie sich stilistisch alles zu einer Einheit rundete – von Irène Friedlis resoluter Frau Graumann über Stefania Kaluzas verführerischem altem Weib bis zu Oliver Widmers eiskaltem Graf. Charakteristisch konturierte Rollenporträts auch von Valeriy Murga (Dr. Vigelius), Cheyne Davidson (Schmierenkomödiant), Morgan Moody (Der alte Graumann), Tomasz Slawinski (Wirt), Davide Fersini (Baron) und Peter Sonn (Chevalier).

Unpathetische Lesart

Sie alle samt Chor, Zusatzchor und Orchester der Oper Zürich durften sich beim Dirigenten Ingo Metzmacher ernst genommen fühlen. Er kennt das Werk und ist ihm ein kongenialer Anwalt. Die sinnlichen Qualitäten von Schrekers Musik blühen in ungeahnten Klangfarben auf, schwelgerisch, üppig, erregend und gleichzeitig klug kontrolliert. Die dämonischen wie die poetischen Seiten von Schrekers Klangsprache kommen beredt zur Wirkung, die instrumentalen Details sind sorgfältig und feinfühlig ausgestaltet. Metzmacher verweigert sich dem prunkvollen Getöse und entschlackt die üppige Partitur durch eine wohltuend unpathetische Lesart. Ein verblüffender Griff in eine musikalische Wunderkiste und wegweisend für die Zukunft dieser Oper.