Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (11.05.2010)
Franz Schrekers Oper «Der ferne Klang» wird selten gespielt. Nun ist sie am Zürcher Opernhaus zu erleben - mit einer eindrücklichen Juliane Banse in der Hauptrolle.
Ein Mann verlässt seine Liebe für die Musik. Eine Frau bleibt zurück und betreibt die Liebe fortan als Handwerk. Ein Mann merkt viel zu spät, dass der Klang, den er suchte, der Klang der Liebe war. Und die Frau kann ihm bis zuletzt nicht klarmachen, dass eine gelebte Liebe mehr wäre als alles, was die Kunst dem Leben abgewinnen könnte.
Franz Schreker, bis zur Nazi-Zeit der meistgespielte deutschsprachige Opernkomponist neben Richard Strauss, hat das Libretto für «Der ferne Klang» (1912) selbst geschrieben. Nicht um hohe Literatur ging es ihm, sondern um einen Text, der die Musik sinnfällig werden liesse. So hört auch das Publikum jenen «rätselhaft weltfernen Klang» einer Harfe, den der Komponist Fritz bis zu seinem Tod sucht. Und überhaupt lebt man ein ganzes Leben mit in diesem Stück, das anfängt, wo viele Opern aufhören: bei einer glücklichen, jungen Liebe.
Zumindest Grete ist glücklich, sie liebt ihren Fritz, sie braucht nicht mehr; mit ihm hält sie auch den betrunkenen Vater und die hart gewordene Mutter aus. Die Musik jubelt und dampft und überbordet in diesem ersten Akt, Wagner ist Kammermusik dagegen, und man versteht durchaus, dass Arnold Schönberg, der wie Schreker als Expressionist angefangen hat, irgendwann die Zwölftonmusik erfand.
Laute Musik, leise Regie
Schreker hat sich vielleicht wie sein Fritz nach einem neuen, reinen Klang gesehnt, aber er ist Expressionist geblieben. Liebe ist Überschwang und Ekstase für ihn, auch Gretes Verzweiflung nach Fritz’ Abreise braucht sehr viele Töne, und ungemein brutal klingt die Musik, wenn ihr Vater sie an den Wirt verspielt. Der Dirigent Ingo Metzmacher hat recht, wenn er das Orchester der Oper aufs Ganze gehen lässt, ohne Rücksicht auf die Stimmen (die sich fast immer trotzdem durchsetzen können), aber mit jenem präzisen Druck, jener schwülstigen Farbigkeit, die diese Partitur verlangt.
Für die leiseren Töne ist die Regie zuständig. So haarsträubend der Text zuweilen ist: Bei Regisseur Jens-Daniel Herzog werden die Figuren glaubwürdig, und Ausstatter Mathis Neidhart zeigt auf der Drehbühne in stimmigen Interieurs gleich auch den Lauf der Zeit. In einem muffigen Jungmädchenzimmer wischt sich Fritz die Hand seiner Grete vom Ärmel, in einem verregneten Hinterhof wird sie später von einer Puffmutter aufgelesen (bei Schreker spielt die Szene im Wald). Und auch in der Glitzerwelt des Bordells, in dem Grete im zweiten Akt als Greta umschwärmt wird, passt jedes Kissen, sitzt jede Bewegung.
Spätestens hier ist nun ein Loblied auf die Wandelbarkeit der Protagonisten zu singen. Juliane Banse ist eine zappelige kleine Grete, ihr Sopran ist manchmal noch etwas schmal, aber in der Tiefe verrät er schon, zu welchen Gefühlen dieses Mädchen fähig ist. Als Greta verfügt sie dann über das ganze Repertoire der erotischen Gesten, über eine dunkel leuchtende, manchmal gezielt verbrauchte Stimme - und eine phänomenale Kondition. Zweieinhalb Stunden dauert die Aufführung, Juliane Banse ist fast immer auf der Bühne und präsent mit jeder Faser, auch wenn sie einmal nicht singt. Es liegt nicht an den übrigen Darstellern (unter anderem Oliver Widmer, Valeriy Murga und zahlreiche Mitglieder des Internationalen Opernstudios), dass man vor allem ihr zuschaut.
Roberto Saccà als Fritz dagegen erlebt man nur auf den Stippvisiten in ihrem Leben. Als ehrgeiziger junger Mann mit attraktivem Tenor und unruhigem Blick verlässt er Grete, als leidlich erfolgreicher Komponist mit meliertem Backenbart findet er Greta wieder - und hat nichts Besseres zu tun, als ihr wieder von jenem Harfenklang vorzuschwärmen. Sie hält sich die Ohren zu, er merkt es nicht einmal, so wie er auch nicht bemerkt hat, in welcher Sorte Etablissement er sich befindet. Als es ihm klar wird, beschimpft er die Dirne, die er soeben noch als sein süsses Weib heiraten wollte, und geht.
Graues Glück
Denn auch die Moral gehört in den Mix, aus dem Schreker seine Geschichte entwickelt - und Herzog entlarvt sie noch schärfer als der Komponist als Doppelmoral. Was anständig ist, was nicht, das wissen die Figuren in «Der ferne Klang» genau, und das wussten auch Schrekers Zeitgenossen. Er wirke verderblich auf das deutsche Publikum, wurde ihm einst vorgeworfen; gleichzeitig war dieser halbseidene zweite Akt ganz nach dem Gusto seiner Zeit.
Für ein heutiges Publikum mag das alles übertrieben, auch ein wenig naiv wirken. Und Schrekers Musik, die schon im ersten Akt ins Überladene tendiert, verliert hier jedes Mass. Zum Orchester gibt es auch noch eine Czardas-Bühnenmusik, die Freier werben mit gruseligen und schlüpfrigen Gesängen um Greta (womit der Text einmal mehr die Musik verlangt). Einem Teil des Premierenpublikums wurde das zu viel, es ging in der Pause.
Wer geblieben ist, wurde allerdings belohnt mit einem dritten Akt, für den allein sich die Aufführung des selten gespielten Stücks lohnen würde. Schreker schreibt nicht vor, wie viel Zeit seit der Episode im Bordell vergangen ist, bei Jens-Daniel Herzog sind es Jahrzehnte. Grau und zittrig kocht sich Fritz in einer leeren Neubauwohnung seinen Filterkaffee, verzieht die Lippen über den dritten Zähnen, horcht dann an der Wand (von der Ouvertüre her weiss man, dass dahinter das Glück ist, und damit Fritz’ Vergangenheit).
Und Grete kommt, grau geworden auch sie, mit steifen Schritten und einer Stimme, die all die Liebe enthält, die sie in ihrem Leben aufgespart hat. Fritz singt dann wieder von seinem Klang, sie schüttelt nur leicht den Kopf. Sie kennt ihn, ihren Fritz, und nimmt es ihm nicht übel, dass er im kurzen Moment des Glücks vor allem daran denkt, dass er nun endlich seine Oper vollenden könne. Die Musik ist hier schlichter als zuvor, weniger verstaubt, und ja: berührend. Der Harfenklang, das Vogelgezwitscher, der Nachhall einer Liebe und eines verpassten Lebens - im Unterschied zu seinem Fritz ist Franz Schreker der Schluss der Oper gelungen.