Peter P. Pachl, nmz neue musikzeitung (10.05.2010)
Zürcher Erstaufführung von Franz Schrekers „Der ferne Klang“
Seit Ingo Metzmacher im Jahre 1988 für seinen damaligen Chef Christoph von Dohnanyi in der Brüsseler Premiere von Schrekers „Der ferne Klang“ als Dirigent eingesprungen war, hat sich seine Interpretation der Oper merklich verändert. Klang die 1912 in Frankfurt uraufgeführte Oper in Brüssel noch vorherrschend rau und schroff, so, als gelte es zu beweisen, dass mit dieser Partitur der entscheidende Schritt zur Moderne vollzogen wurde, so fiebert sie nun unter Metzmacher in ambivalentem Glanz, mit deutlicher Verwurzelung in den Scherben einer zerbrochenen Romantik.
Der Dirigent nimmt sich nun viel Zeit, Motive zu ziselieren und Themenentwicklungen auszubreiten, er vermag die Abschnitte dieser episodenreichen Handlung immer wieder durch Pausen voneinander abzusetzen, ohne die Gesamtwirkung, den großen Bogen aus den Augen zu verlieren oder der Schrekerschen Charakterisierung des Findungsprozesses von „Eindrücke[n] über Eindrücke[n], brausend, erschütternd, flammend, ruhelos“ entgegen zu wirken.
So gönnt Metzmacher auch der aus Budapest engagierten Zigeunerkapelle Miklós Lakatos mit ihrem solistischen Stehgeiger im zweiten Akt breiten Entfaltungsraum. Den thematischen Wettbewerb des „Zigeunerlied“-Themas zwischen Bühnenmusik und Orchester intensiviert er inmitten der den Zuschauer umgebenden, berückenden klanglichen Vielfalt von Fernorchestern und Fernchören, die live, etwa aus dem Foyer des 2. Ranges, erklingen. Hierin verwoben und nachvollziehbar emphatisiert sind die eingeflochtenen fernen Widerklänge aus der Psyche des Komponisten Fritz, auf seiner Suche nach dem Berühmtheit schaffenden „Fernen Klang“, kontrapunktiert von aggressiven und geradezu obszönen Klangblöcken.
Die Zeitsprünge der Handlung in Schrekers erstem eigenen Libretto hat Regisseur Jens-Daniel Herzog von der Mitte des vergangenen Jahrhunderts bis in unsere Zeit vergrößert. So spielt die Anfangsszene in der bigotten Spießigkeit der Fünfzigerjahre, wenn der alte Graumann seine Tochter Grete an den Wirt verspielt und das aufdringliche Werben der Wirtshausgesellschaft einer kollektiven Vergewaltigung des jungen Mädchens gleichkommt. In der dem filmischen Realismus verpflichteten Ausstattung von Mathis Neidhardt kreist die Geschichte auf der Drehbühne.
Die bietet allerdings nicht genug Raum für die Waldszene, so dass Gretes Flucht in einen Hinterhof verlegt wird: der See ist eine gefrorene Pfütze und ihr Märchentraum hat zur Folge, dass sie sich mit den Scherben einer Bierflasche die Pulsader aufschneidet. Ohne Verfremdung dann der Mittelakt: ein Bordell der Siebzigerjahre. Das Theaterbeisl hingegen ist zur Kantine mit Automat und Monitor umgestaltet, auf dem die Vorstellung von Fritz’ „Harfe“ übertragen wird; die sonst über die Straße brandenden Wogen des Orchesters im Theater löst die Kellnerin per Fernsteuerung aus.
Das „Nachtstück“, das lange Zwischenspiel zum Schlussbild, führt in eine leere Neubauwohnung, in der einzig die Kaffeemaschine ausgepackt und installiert ist, vom greisen Komponisten mühevoll bedient. Zum Vogelkonzert, in das der Komponist die Hermen seiner eigenen, unerfüllten Liebe zu seiner verheirateten Schülerin Grete Jonasz (als Ruf „FAGEA“, für Franz-Grete) eingefügt hat, öffnet Fritz die Milchglasscheibe des Fensters und lauscht in die Ferne. In der inneren und äußeren Leere dieser Wohnung begegnen sich die einstigen Liebenden als mühevoll von Altersgebrechen Gezeichnete, die schließlich, kurz vor Fritz’ Exitus, am Heizköper niedersinken.
Insbesondere diese Szene geht nahe. Glaubhaft gealtert und gebrechlich, bewegt sich der junge, stets mühelos strahlende Tenor Robero Saccà als Fritz. Sein endliches Zusammenkommen mit der in jeder Phase gesanglich und darstellerisch überzeugenden Sopranistin Juliane Banse als Grete gehört zu den stärksten Momenten einer szenisch stets auf Hochspannung setzenden Produktion. Die Solisten sind sämtlich in Rollendebüts zu erleben. Musikdramatisch überzeugende Charakterbilder schaffen Stefania Kaluza als Kupplerin, Valeriy Nurga als Winkeladvokat Dr. Vigelius und Cheyne Davidson als Schmierenkomödiant. Besonders aufhorchen lässt – als Fritz’ junger Freund Rudolf – Morgan Moody, der zuvor auch Gretes Vater als einarmigen, der Trunksucht Verfallenen verkörpert.
Den einzigen Schwachpunkt der personenreichen Musikdarstellerriege bildet Oliver Widmer als Graf; besonders bedauerlich, da Thomas Hampson, der – wie zahlreiche andere Belcanto-Baritone – die Ballade des Grafen von der Güldenen Krone hinreißend auf CD interpretiert, gerade in Zürich engagiert ist (wo er am nachfolgenden Abend einen Liederabend singt).
Die häufig gestrichenen, das Orchester und den Gesang melodramatisch überlagernden gesprochenen Texte sind in die ungekürzte Zürcher Erstaufführung nahezu vollständig eingebunden. Solisten, Chor und Orchester, Dirigent und das szenische Team ernteten bei der Premiere einhelligen, emphatischen Beifall, widerspruchslos und mit rhythmischem Applaudieren: Ein großer Erfolg auch für Schrekers inzwischen wieder meistgespieltes Bühnenwerk, das im Sommer seine amerikanische Erstaufführung erleben wird.