Ferner Klang, ganz nah

Dennis Roth, klassik.com (11.05.2010)

Der ferne Klang, 09.05.2010, Zürich

Die Musik löst die Opernhandlung aus, genauer: jener titelgebende „ferne Klang“, den der junge Komponist Fritz am Beginn von Franz Schrekers 1912 triumphal uraufgeführter Oper zu hören meint und dem er sein ganzes Leben lang nachjagen wird. Ohne Erfolg. Am Ende erweist sich seine künstlerische Vision als eine Illusion, die ihn ein uneigentliches Leben leben ließ, fallen ästhetische Epiphanie und Liebestod in eins. Auf den fernen Klang lauschend, stirbt er in den Armen Gretas, seiner einzigen und wahren Liebe. Das Glück – nur noch eine retrospektive Utopie. Beider Leben sind gescheitert.

Das vom Komponisten verfasste Libretto fokussiert jedoch nicht die Selbstfindung des Künstlers, sondern den Werdegang der Zurückgelassenen. Romantische Motive und realistische Milieuschilderung gehen Hand in Hand. Bei der Premiere im Opernhaus Zürich zeigte die Sopranistin und Fassbaender-Schülerin Juliane Banse intonatorische Schwächen insbesondere in der hohen Lage, punktete aber mit ihrer einfühlsam-glaubwürdigen und mit großem Beifall bedachten Darstellung der Grete, die im zweiten Akt als Hure 'Bella Greta' zweifelhafte Erfolge feiert und im dritten Akt als Gefallene zurück zu Fritz findet. Diesen gestaltete der lyrische Tenor Roberto Saccà gesanglich wie darstellerisch famos.

Die Regie Jens-Daniel Herzogs ist durchdacht, stimmig und handwerklich souverän. Jederzeit der Handlung dienend, macht sie auch das komplexe Simultangeschehen durchsichtig, das am Beginn des im Bordell spielenden zweiten Aktes auf musiktheatralische Totalität, illusionistische Überwältigung des Zuschauers zielt und darin Zimmermanns 'Soldaten' vorwegzunehmen scheint. Neben dem gut geführten Opernchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger), inmitten leicht bekleideter Damen und halbseidenen Herrschaften brilliert hier Miklós Lakatos Zigeunerkapelle, und auch der von Grete initiierte Sängerwettstreit ist wirkungsvoll in Szene gesetzt.

Bühnenbild und Kostüme, beides von Mathis Neidhardt entworfen, sorgen im Zusammenspiel mit der dezenten, bisweilen traumhaft schwebenden Lichtgestaltung Jürgen Hoffmanns für die spezifische Atmosphäre eines jeden Aktes – das üppige Intérieur des Bordells steht im Kontrast zur behaglichen Stube des ersten Aktes und zur trostlos-schlichten Theaterkantine im letzten Akt – und spiegeln die jeweilige Zeit wider, ausgehend von den fünfzigern über die siebziger Jahre bis hin zur Jetztzeit. Die ohnehin episch-romanhaften Dimensionen des Librettos werden in dieser Inszenierung nochmals gedehnt. Die Figuren durchleben Jahrzehnte, mithin einen Alterungsprozess, der sie im dritten und letzten Akt als Senioren auftreten lässt, während das Libretto nur eine zeitliche Distanz von 10 bzw. 5 Jahren zwischen den Akten kennt. Doch dieses Konzept geht nicht vollständig auf: Das Paar ist in seiner Rentneroptik an Biederkeit kaum zu überbieten – er in Strickjacke, sie mit grauem Dutt –, was freilich weder zum Künstler noch zur ehemaligen Prostituierten passen will. Der Kreis schließt sich auf der Drehbühne nur insofern, als Fritz noch vor dem ersten Akt in seiner Wohnung steht, die so leer ist wie ein Inneres, erst einmal einen Kaffee aufsetzt und das Ohr an die weiße Wand legt, den Klängen der Vergangenheit lauschend; den Kaffee wird er dann in der zweiten Szene des dritten Aktes mit zitternder Hand in die Tasse gießen, bevor ihm ein Bote Gretas Besuch ankündigt. Sie erkennen sich wieder, gestehen sich in einem intensiven Finale zu harfenglitzernden Klängen ihre Liebe.

Schreker geht es um nicht weniger als um die Emanzipation des Klangs. So ist es nur folgerichtig, dass das von Ingo Metzmacher ingeniös geleitete Orchester in den Vordergrund rückt, dabei dem bis in die Nebenrolle gut besetzten Sängerensemble nicht selten die Schau stehlend (herausgehoben seien Irène Friedli als eisige Mutter und Valeriy Murga als Kraftprotz Dr. Vigelius, den die Reue über seinen Anteil an Gretes Schicksal zum Melancholiker hat werden lassen). Es ginge an der Sache vorbei, den Orchesterklang nun nach Registern feinsäuberlich differenzieren zu wollen. Denn Schreker konzipiert das Orchester ausdrücklich als einen homogenen Klangkörper, dessen spezifischer Klanglichkeit eine wesentliche dramaturgische Funktion zukommt und der die unbewussten Regungen und Strömungen der Figuren seismographisch aufspürt. Das Opernorchester beschwört, mit unerhörter Suggestivität, einen duftigen Klangzauber herauf und überzeugt mit makelloser Intonation (Hörner!) ebenso wie mit klanglicher Plastizität. Als wäre dies nicht genug, überwölbt es das Geschehen mit Spannungsbögen und weiß den Klang selbst zu dramatisieren. Eine musikalische Leistung, der es gelingt, im Verbund mit der gelungenen Inszenierung dem begeisterten Publikum das Ideal jenes „fernen Klanges“ nahezubringen.