Oliver Schneider, DrehPunktKultur (14.05.2010)
Mit Franz Schrekers heute zu selten aufgeführter Oper „Der ferne Klang“ gelang Ingo Metzmacher vor 22 Jahren in Brüssel der internationale Durchbruch, als er kurzfristig für Christoph von Dohnányi einsprang. Mit eben diesem Werk setzt er jetzt wieder in Zürich Maßstäbe.
Ansetzend bei Richard Strauss verbindet Schreker spätromantische Orchesteropulenz mit impressionistischen Errungenschaften, lässt da und dort in den Singstimmen Puccini durchblitzen und öffnet das Tor zu Bergs „Wozzeck“. Der junge Komponist Fritz verlässt auf der Suche nach dem magischen Klang die Enge seiner Heimatstadt und seine Freundin Grete, um sein Glück in der Großstadt zu suchen. Grete beschliesst ihm zu folgen, endet aber als Prostituierte. Im Alter treffen sich die Beiden wieder, nachdem Fritz eine Oper über ihr Leben komponiert hat, doch nun ist es zu spät. Fritz haucht sein Leben in Gretes Armen aus.
Schreker schichtet in seiner 1912 in Frankfurt am Main uraufgeführten Oper zwei Ebenen übereinander: das Künstlerdrama als externe Handlung sowie eine symbolistisch und psychoanalytisch geprägte innere Handlungsebene. Zusammengehalten werden sie durch das im Mittelpunkt stehende Orchester. Hier schlägt die Stunde von Ingo Metzmacher: Überwältigend lässt er das Riesenorchester immer wieder aufrauschen und bietet emotionale Üppigkeit. Die Sänger hätten es wahrlich schwer, sich in solchen Momenten über die Klangmassen hinweg zu setzen, wäre da nicht der zügelnde Griff des Dirigenten. Seine besondere Aufmerksamkeit schenkt er aber den Momenten, in denen Harfe, Flöte oder Hörner in lyrischen Reflexionen hervortreten. Schrekers Musik steht zuweilen auf der Grenze zum süsslichen Kitsch, doch Metzmacher und das ausgezeichnete Zürcher Orchester finden jederzeit die nötige Grenze, um die Emotionen nicht überborden zu lassen. Ein nur schon deshalb in Erinnerung bleibender Abend.
Das vorzügliche Zürcher Ensemble trägt dazu wesentlichl bei, vor allem Roberto Saccà als realitätsflüchtender Komponist und Juliane Banse als Grete. Saccàs immer noch schlanker Tenor besitzt gleichwohl die nötige Fülle und vor allem die metallische Kraft, um das Orchester in jedem Moment mühelos zu überstrahlen. Bei Juliane Banse ist es die flexible und klangvolle Mittellage, mit der sie punkten kann. Vom Volumen her stößt sie zuweilen an ihre Grenzen. Die Unsicherheit in der hohen Lage macht sie mit ihrer szenischen Souveränität wett. Genau wie Saccà beweist sie, dass sie eine Singschaupielerin par Excellence ist.
Die Inszenierung von Jens-Daniel Herzog, dem designierten Intendanten der Dortmunder Oper und einem häufigen Gast in Zürich, bietet ihnen jede Möglichkeit des Beweises, denn die Oper zeichnet den Lebensweg von Grete und Fritz nach: vom Idealismus der Jugend über die Zweifel in der Lebensmitte bis zum Alter. Herzog und sein Ausstatter Mathis Neidhardt erzählen die äußere und innere Handlung als Rückblende: Während des Vorspiels lässt Fritz in einem kahlen Zimmer sein Leben vor sich abspulen. Herzog verzichtet darauf, den ohnehin schon komplex übereinander geschichteten Ebenen eine weitere in Form einer neuen Regieidee überzustülpen. Seine Regie überzeugt durch einen Lupenblick auf die Personen und die Milieus, in denen sie sich bewegen. Gretes Weg aus der kleinbürgerlichen Enge ihres Elternhauses in der Provinz scheint vorgezeichnet: entweder die Ehe mit einem Wirt, bei dem ihr Vater täglich seinen Alkoholdurst stillt und tief in der Kreide steht, oder die Flucht in die Prostitution in der Großstadt. Dieser Halbwelt verpasst das Regieteam im zweiten, etwas langatmigen Akt den zweifelhaften Charme der siebziger Jahre. Grete ist hier zur mondänen Greta geworden, um die sich die Männer streiten. Als im Grunde mit ihrem Leben unglückliche Greta setzt die Banse hier und als alte Frau in einer fast schon Marthalerschen Theaterkantine im dritten Akte die stärksten Akzente.