Sandkastenspiele in Ägypten

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (30.05.2006)

Aida, 28.05.2006, Zürich

Statt im 19. Jahrhundert vor der Zeitrechnung siedelt Regisseur Nicolas Joel Verdis «Aida» im 19. Jahrhundert Napoleons III. an. Europäische Kolonialisten kostümieren sich als Verdi-Zeitgenossen - ein Missverständnis auf der ganzen Linie.

So viele schöne Kostüme. Franca Squarciapino hat ganze Arbeit geleistet. Und genau so, wie der Cul de Paris einen «falschen Steiss» vorspielt, spielen sie uns hier eine falsche «Aida» vor, zeitlich «verrutscht» in die Entstehungsjahre der Oper, nämlich in die Endzeit des Deuxième Empire, als ginge es um Jacques Offenbachs «Grossherzogin von Gerolstein» (von 1867).

Was nur, fragt man sich einen langen Opernabend lang, suchen diese aufgeblasenen Franzosen (und Engländer) mit ihren Damen und Bediensteten in der ägyptischen Wüste? Warum nur stellen sie dort einen pompösen Glaspalast hin (Bühnenbild: Ezio Frigerio), der an repräsentative Weltausstellungs-Architektur (Paris 1867) erinnert, und spielen Verdis Populäroper «Aida» nach, als wäre es ein Stück aus ihrer Jetztzeit? Schwingen die französische Trikolore und den britischen Union Jack, wenn Radamès, der ägyptische Feldherr, siegreich von seiner Schlacht gegen die Äthiopier zu den Klängen des berühmten Triumphmarsches heimkehrt?

Lendenlahm

Wer kämpft hier gegen wen? Europäische Kolonialisten gegen ägyptische (resp. äthiopische) Eingeborene? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Denn Amonasro, der geschlagene König der Äthiopier, trägt ebenso jenen modischen Dress, den man als Europäer damals anzog, um unter Schweissperlen auf Expedition in die weite Welt der Wüsten und Tropen zu gehen. Und seine Tochter Aida erst recht - keine Sklavin, sondern eine luxuriös gewandete Tochter aus noblem Hause. Was sie im Palast des ägyptischen Pharaos zu suchen hat, das wissen vielleicht die Götter.

Im Ernst, die Marotte, Opern in der Zeit ihrer aktuellen Entstehung zu inszenieren, nur weil die längst ferne Zeit, in der sie spielen, für ein heutiges, aufgeklärtes Publikum nicht mehr glaubwürdig zu sein scheint, entpuppt sich hier als reine Marotte. Denn das historische Ägypten, das Verdis «Aida» zugrunde liegt, war bereits für Verdi und seine Zeitgenossen pseudohistorisch. Und genau darin, vermute ich, lag der Grund für die unvergleichliche Beliebtheit der «Aida» (die bis heute unvermindert anhält): dass man sich nicht auf Realitäten einzulassen hat oder auf feuerköpfige Ideen, wie sie Don Carlo in Verdis unmittelbar zuvor entstandener Oper vertritt (und mit dem Tode büsst).

Edle Wilde

Hier, in «Aida», tritt kein aussenseiterischer Revoluzzer auf, kein kämpferischer Verkünder humaner Menschenrechte. Hier stehen sie von Anfang an alle gleichsam auf verlorenem Posten: Das Individuum hat keinerlei Chance gegen das Kollektiv politischer und religiöser Macht. Bezeichnenderweise ist Aida, die Protagonistin, bereits in ihrer allerersten Arie bereit zu sterben. Todessehnsucht, im Falle von Radamès auch lendenlahme Schicksalsergebenheit, durchzieht diese Oper.

Immerhin, das hätte man inszenieren können. Dieses individuelle Ausgesetztsein der Staats- und Kirchengewalt gegenüber. Dieses seelische Eingemauertsein in einer Welt, wo die Herrschenden nur mehr Marionetten eines Machtbetriebs sind. Doch zu solchem Ernst schwingt sich die Inszenierung nicht ansatzweise auf. Es bleibt bei Sandkastenspielen einer verwöhnten gesellschaftlichen Elite, die sich an edlen Wilden (im Ballett der Mohren) delektiert. Oder gefangene Äthiopierinnen und Äthiopier bestaunt, die aus einem Schiffsbauch (Fingerzeig, der Suez-Kanal wurde ja soeben eröffnet) herausgekarrt werden und, entkräftet und am Verdursten, kaum aus ihren eisernen Käfigen entlassen schwungvoll Ballett tanzen, allerdings in einer einfallslosen Choreografie von Stefano Giannetti. (Dass die erste Ballettnummer, «danza sacra delle sacerdotesse», ausfällt, ist unter solchen Voraussetzungen wohl zu verschmerzen.)

Fulminantes Debüt

Szenisch wurde diese «Aida» ziemlich in den Sand gesetzt. Musikalisch indes hat sie durchaus ihre Qualitäten - ihre schönsten in der Protagonistin: Nina Stemme gab als Aida ein wahrhaft fulminantes Rollendebüt. Mit dramatischer und gleichzeitig weich und breit flutender Stimme, höhensicher und entschieden strahlkräftig, dabei von wunderbar berührender Innigkeit im Piano. Ein Prachtorgan - und eine prächtige Schauspielerin, die mit glutvoller Dramatik und unerschöpflicher physischer Kraft alles gibt, ohne sich zu verausgaben.

Dagegen hatte Luciana d'Intino als Amneris keinen leichten Stand. In den ersten drei Akten hörte man das auch: fahle (und zu tief intonierte) hohe Töne im Piano und Registerbrüche, die einer feineren vokalen Differenzierung im Wege standen. Den vierten Akt indes, «ihren» Akt, meisterte die Sängerin mit hinreissendem Aplomb und elektrisierendem vokalem Drive. Salvatore Licitra ist vom Typus her kein Radamès mit schwermetallener Feldherrenstimme, sondern wirkt (was der Inszenierung durchaus entspricht) in dieser Partie eher zurechtkostümiert, weiss aber dennoch die dramatischen Höhepunkte wirkungssicher aufzubauen und beeindruckt nicht zuletzt durch die sprachliche Immanenz seines Gesanges. Davon ist sonst nicht eben viel zu hören. Matti Salminen gibt zwar einen noblen, aber mitunter vokal etwas unsteten Ramfis, Günther Groissböck einen angestrengt wirkenden König. Juan Pons scheint als Amonasro mit hohler, zuweilen auch heiserer Kraftmeierei gleichsam einen Ausweg aus seiner Partie zu suchen. Kaum ein Legato, keinerlei Belcanto-Schmelz, wo ihm doch - mit «rivedrai le foreste imbalsamate» - eine der schönsten Melodien der ganzen Oper zugedacht ist.

Adam Fischer dirigiert mit Umsicht, heizt Verdis Musik durchaus ein, wo Feuer lodern soll, hält aber in den martialischen Chören und im Triumphmarsch stets so viel Mass, dass es nicht lärmig und leer wird. Für die resignativen Momente dieser Musik, auch für ihr nachempfundenes folkloristisches Kolorit, findet das Orchester der Oper Zürich fein abgetönte Zwischenfarben, allerdings ohne die lukullischen Nuancen eines klanglichen Verwöhnaromas.

Zum Schluss viel Applaus für alle Beteiligten und hörbar einige Buh-Rufe für den Regisseur, die dieser mit der Hand an der Ohrmuschel entgegennahm - als wäre er schwerhörig.