Die vielen Facetten der Erotik lustvoll in Szene gesetzt

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (23.05.2010)

La Calisto, 21.05.2010, Basel

Die frühbarocke Oper «La Calisto» von Francesco Cavalli wurde am Freitag in Basel zu einem wundervollen Opernabend. Ein gemeinsamer Triumph für den Regisseur Jan Bosse und den Dirigenten Andrea Marcon.

Ein knallrotes Amor-Engelchen schwirrt herum, streut Blockflötentöne unter das Premierenpublikum von «La Calisto», das in den Gängen des Theater Basels gut gelaunt und erwartungsvoll die erste Regie-Idee von Jan Bosse diskutiert: Geschlechtertrennung, Männer auf die Bühne, Frauen ins Parkett. Auch später wird Anna Fusek mit Blockflöte, Zink oder sogar Geige als Amor ihre akustischen Pfeile abschiessen und Leben ins ohnehin schon turbulente Geschehen dieser Metamorphosen-Geschichte bringen: Der Gott Jupiter verliebt sich in die Nymphe Calisto, eine keusche Dienerin der Göttin Diana, die seine Avancen energisch zurückweist. Der notorische Frauenheld greift zu seinem Lieblingstrick und verwandelt sich: Diesmal in Diana, in deren Gestalt er Calisto ohne Mühe gewinnt.

Das Auftauchen der echten Diana, auch sie nicht frei von erotischem Verlangen, sorgt naturgemäss für Verwirrung, die noch angeheizt wird von einem faunischen Trio aus Halbgöttern und der eifersüchtigen Juno, die schliesslich nicht ihren Göttergatten, sondern die unschuldige Calisto bestraft: Verwandelt in eine Bärin soll sie für Jupiter unattraktiv werden. Der aber zeigt Grösse und erhebt sie als Sternbild ans Firmament. Auch dafür hat sich Jan Bosse etwas Spezielles einfallen lassen: Kleine Lämpchen werden ans Publikum verteilt, und im entscheidenden Moment glitzert das Theater als Nachthimmel: Der Feuerzeug-Effekt vom Popkonzert ist in der Oper angekommen.

Den Zuschauerraum okkupiert

Aber Bosse kann mehr: Die Herausforderungen der besonderen Bühnensituation mitten im Publikum, ohne Dekorationen, ohne Requisiten und mit wenig Platz meistert er herausragend. Die Sänger okkupieren den Zuschauerraum, klettern über Brüstungen und Stühle. Aus dem Publikum tauchen Furien oder Statisten auf, und all das richtet Bosse mit einer handwerklich meisterhaften Personenführung ein, mit viel Temperament, Tempo, stets mit dem Riecher für Situationskomik und Lust auf das Spiel mit den Geschlechterrollen.

Zentrales szenisches Element ist ein Vorhang aus Wasser, eine durchsichtige Wand, eine Grenze, die aber doch überschritten werden kann. Etwas Überwindung braucht es zwar dafür, und einige Mitglieder des Basler Opernensembles werden ganz schön nass, was auch eine erotische Komponente in die Inszenierung bringt. Eine Erotik, die von den zotigsten Sprüchen und grellsten Travestien bis zu subtilen Träumen reicht.

Frühbarocke Klangfarben

Auch die Musik Cavallis lebt von der Bandbreite der Farben und Emotionen. Wie schon für Monteverdis «Orfeo» arbeitete Andrea Marcon mit den Musikern des Barockorchesters La Cetra der Basler Schola Cantorum. Mit einem überaus reich besetzten Continuo mit Cembali, Orgel, Harfen, Lauten oder Gamben erweckt Marcon alle Klangfarben des frühbarocken Orchesters in einem Reichtum zum Leben, der Staunen macht und in der Lebendigkeit und rhythmsichen Flexibilität der teilweise improvisierten Begleitung auch den Sängern ein überaus dankbares Fundament bietet. Cavallis Harmonien überraschen immer wieder, die schnellen Wechsel der Affekte, die fast auf Schritt und Tritt für Abwechslung sorgen, sind allein schon ein wunderschönes Zeugnis für die musikalische Meisterschaft Cavallis, der 1651 mit seiner 15. Oper auf dem Höhepunkt seiner kreativen Fähigkeiten stand.

Ein überaus dankbares Terrain ist die Oper auch für Solisten, die so virtuos mit Sprache und Stimme umgehen können wie alle an diesem wundervollen Basler Opernabend. Umwerfend, wie der kräftige Jupiter von Luca Tittoto als Diana verkleidet ins nicht minder kräftige Falsett wechselt und alle Register der Verführung zieht. Da wird die Travestie mit stimmlichen Mitteln überaus lustvoll weitergeführt, wie auch bei der Linfea des Countertenors Flavio Ferri Benedetti oder dem Satirino von Alice Boricani. Aber auch, wenn Rolle, Geschlecht und Stimme kongruent waren, blieben keine Wünsche an virtuosen, ausdrucksvollen Barockgesang offen, etwa bei Maya Boog als Calisto oder Xavier Sabata als Endymion oder dem Merkur von Nikolay Borchev.

Ein wundervoller Opernabend, bei dem, wie nur ganz selten zu erleben, Szene und Musik eine liebevolle Symbiose eingehen und beide gleichermassen zur Verzauberung des Publikums beitragen.