Eine Welt im Liebeswahn

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (25.05.2010)

La Calisto, 21.05.2010, Basel

Cavallis Oper «La Calisto» – spektakulär am Theater Basel

Vor zwei Jahren erfanden Andrea Marcon und Jan Bosse mit Monteverdis «Orfeo» die Barockoper neu. Jetzt knüpfen sie mit «La Calisto» von Cavalli daran an.

Was ist Theaterspannung? Wenn man am Anfang auf die Uhr schaut und denkt: «O je, drei Stunden!» Und sich beim Schlussapplaus die Augen reibt: «Was, schon fertig?!»

So erging es wohl etlichen Premierenbesuchern in der Basler Erstaufführung der Oper «La Calisto» von 1651. Das Theater legte dieses Frühwerk der Operngeschichte in die Hände von Andrea Marcon (Dirigent) und Jan Bosse (Regisseur), und sie sorgten für einen überraschenden Musiktheaterabend, bei dem es wie einst in der Kirche hiess: Weiblein nach rechts und Männlein nach links!

Der unerforschliche Ratschluss des Regieteams wollte gerade in diesem Stück über die Liebe und das Zueinanderfinden der Geschlechter dieselben säuberlich auseinanderhalten. Also versammelte sich der weibliche Teil im Zuschauerraum und der männliche auf der Bühne, die in einen symmetrischen zweiten Zuschauerraum verwandelt worden war. Dazwischen das mit Streich-, Zupf-, Blas- und Tasteninstrumenten bestückte Barockorchester La Cetra und die zum Laufsteg verschlankte Bühne.

Aber was heisst da Bühne! Der ganze Riesenraum wird in dieser Aufführung genutzt, die Akteure turnen zwischen den Sitzreihen rum und setzen sich mal neben, mal auf einen Zuhörer. Plötzlich erheben sich Menschen, die man für Premierenbesucher hielt, und eilen singend auf die Spielfläche. Ein Tollhaus, dieses Theater, amoralisch bis zum Exzess das Stück.

Darin beklagen zuerst der Obergott Jupiter und die Nymphe Calisto die anhaltende Trockenheit, und man begreift rasch, dass das eine Metapher für das Liebesmanko ist, das die beiden kurz nach Einsetzen des lebenspendenden Regens beheben. Calisto, indem sie einfach ihr Leben lebt, und Jupiter, indem er in die fremde Haut der Jagdgöttin Diana schlüpft, die bei Calisto freien Zugang geniesst. Was zu allerlei Situationskomik und zu Verwicklungen führt, denn auch der Hirt Endimione ist in Diana verliebt. Da hat Merkur als «Go-Between» zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre alle Hände voll zu tun.

Poppig. Am Ende wird Calisto auf Anweisung der Göttergattin Juno in eine Bärin verwandelt und von Jupiter ans Firmament verpflanzt, wozu wir alle die in der Pause ausgeteilten Lämpchen in die Luft halten. Barockoper als Popkonzert – darauf muss man auch erst mal kommen. Die Musik schafft es doch immer wieder, uns das Blaue vom Himmel einzureden und die besten Vorsätze vergessen zu lassen, zum Beispiel den der ehelichen Treue. Und die Basler Inszenierung hilft kräftig mit bei dem Projekt, das da heisst: Betrügen im Interesse der Liebe, die Welt ist ohnehin im Liebesirrsinn. Wenn Jupiter (mit nobel-geschmeidigem Bass: Luca Tittoto) am Anfang einem leicht geschürzten Amor nachstellt (flötend, geigend und überhaupt die Anmut in Person: Anna Fusek), sind wir ganz auf seiner Seite. Und wenn kurz darauf die Titelfigur aus der Tiefe ihren Klagegesang erhebt, möchten wir alle zu ihr eilen und sie trösten. Maya Boog versteht es unnachahmlich, die Töne im letzten Moment zu bringen, ohne zu schleppen, was ihrem Gesang unerhörten Reiz verleiht.

Bald fliesst es vom Schnürboden in Strömen, und männig- wie frauiglich labt sich am kühlen Nass. Wie Carmen in Bizets Oper singt Calisto von der Freiheit der Vögel (und denkt womöglich an die Freiheit des Vögelns). Jupiter ist inzwischen seinem Einflüsterer Merkur (Nikolay Borchev, der Orfeo der verflossenen Basler Produktion) gefolgt und hat sich Diana ähnlich gemacht, um Calisto zu erobern. Und so nimmt die Verkleidungs- und Verwechslungskomödie ihren Lauf.

Endimione (mit noch entwicklungsfähigem Counter: Xavier Sabata) leidet Liebesqualen, die putzig-geilen Satyrn werden verjagt, die spät ins Geschehen eingreifende Juno (dramatisch: Geraldine Cassidy) erhält ihre Rache, die keusche Diana (mit verzehrender Stimme: Agata Wilewska) ihren braven Hirten – und wir alle einen im besten Sinn feucht-fröhlichen Opernabend, der die Rede von den endlosen Barockopern Lügen straft. Und da es immer auch einen Verlierer geben muss, bleibt die ältliche Linfea (countertenoral und auch am Cembalo hinreissend: Flavio Ferri-Benedetti) unbemannt.

PROJIZIERT. Nicht zuletzt bewundert man die perfekt funktionierende Technik, mit der dies unmoralische Spiel umgesetzt wird – bis hin zu Filmprojektionen auf den Schnürlregen. Unmöglich wäre all dies freilich ohne das Barockorchester La Cetra, das sich trotz der ungünstigen Akustik tapfer behauptet und unter seinem Chef Andrea Marcon die Rezitative farbig begleitet, die Duette und Ensembles konzentriert unterfüttert und in den Passacaglia-Sätzen herrlich die Post abgehen lässt. Da vergisst man fast, dass Cavallis Musik im Vergleich zu der seines Lehrers Monteverdi mitunter schwach ist.

Bravi und Begeisterungspfiffe im vollen Haus.