Götter – verletzlich wie Menschen

Martina Wohlthat, Neue Zürcher Zeitung (25.05.2010)

La Calisto, 21.05.2010, Basel

Cavallis Oper «La Calisto» in Basel

Wenn Götter auf die Erde herabsteigen, geschehen merkwürdige Dinge. Spröde Jungfrauen werden liebestoll, Machos verwandeln sich in kurvenreiche Blondinen. In «La Calisto», der 1651 in Venedig uraufgeführten Oper von Francesco Cavalli, verführt Jupiter in der Gestalt Dianas die männerscheue Nymphe Calisto, die darauf von der erzürnten Juno in eine Bärin verwandelt wird. Dagegen kann selbst Jupiter nichts machen – sein Versprechen, Calisto werde am Ende ihres irdischen Daseins als Sternbild an seine Seite erhoben, bleibt ein schwacher Trost.

Wo Jupiter das Schicksal nicht wenden kann, improvisiert das Publikum im Theater Basel mit Taschenlampen im abgedunkelten Zuschauerraum den Sternenhimmel für die finale Apotheose. Wie er es schon bei seiner Basler Inszenierung von Monteverdis «Orfeo» getan hat, siedelt der Regisseur Jan Bosse nun auch «La Calisto» unmittelbar im Publikum an. Der Abend im Basler Stadttheater beginnt bereits im Foyer mit der Aufteilung des Publikums. Die Frauen werden auf die Parkettplätze im Zuschauerraum komplimentiert, während die Männer in einem exakt nachgebauten Zuschauerraum auf der Bühne Platz zu nehmen haben. Dazwischen agieren die Opernfiguren und das zweigeteilte Orchester.

Dreh- und Angelpunkt des Abends ist die Geschlechterthematik. Die Spielanordnung nimmt den Geschlechterkampf im Stück beim Wort, bringt Männer und Frauen auf Distanz und versetzt sie damit in eine Beobachtungshaltung. Cavalli und sein Librettist Giovanni Faustini spielen die Irrungen und Wirrungen ihrer Figuren bis zur Travestie durch. Jupiters Verkleidung als Diana ist allein schon bizarr, sie wird jedoch noch dadurch verstärkt, dass der Bassist Luca Tittoto den Göttervater mit seiner sonoren Naturstimme gibt, in der Verkleidung als falsche Diana jedoch ebenso imposant im Falsett singt. Das Geschlechterthema wird musikalisch wirksam, gibt es hier doch auch ein weibliches und ein männliches Orchester. Das Basler Barockorchester La Cetra begleitet in zwei Formationen die Opernfiguren jeweils nach deren vermeintlichem oder tatsächlichem Geschlecht.

Andrea Marcon dirigiert vom Cembalo aus und hat mit den Sängern und Instrumentalisten eine höchst farbenreiche und rhythmisch feinsinnige Wiedergabe erarbeitet. Dabei sind die Grenzen zwischen Vokalisten und Instrumentalisten fliessend, und einige Darsteller greifen zwischendurch sogar selbst zum Instrument. Amor (Anna Fusek) ist hier eine androgyne Gestalt, die auf der Bühne die Fäden zieht und dazu virtuos Flöte, Violine und Orgel spielt. All das wäre mit einem herkömmlichen Ensemble kaum möglich, doch die Basler Aufführung profitiert davon, dass mit Sängern und Instrumentalisten der Schola Cantorum Basiliensis vielseitig ausgebildete und versierte Multitalente in der Produktion mitwirken. Es ist ein Fest der geschmeidigen, linear geführten Stimmen: Die Sopranistin Maya Boog überzeugt als sprödes Naturkind Calisto, der Countertenor Xavier Sabata glänzt als schwärmerischer Hirte Endimione, Nikolay Borchev (Mercurio), Flavio Ferri Benedetti (Linfea) und Alice Borciani (Satirino) brillieren auch darstellerisch mit quirliger Bühnenpräsenz.

Der Ausstatter Stéphane Laimé verwandelt die amouröse Quelle in einen Vorhang aus Wasser, der immer dann herunterrauscht, wenn die Gefühle der Liebenden aufbranden. Die Fruchtbarkeitssymbolik des Wassers wird reichlich bemüht, und auch die anzüglichen Spässe der Satyrn aus dem Gefolge Pans (Michael Feyfar) kommen hinlänglich zur Wirkung. Das alles geschieht jedoch ohne allzu viel Klamauk. Denn letztlich vertraut die Inszenierung ganz auf die Gefühlslage der Figuren und die wechselnden Affekte in der Musik. Auch optisch ist die Basler Inszenierung von «La Calisto» mit ihren Licht- und Schattenspielen von unverschnörkelter Schönheit. Durch die Nähe von Zuschauern und Darstellern entsteht viel Spontaneität und Unmittelbarkeit. Das barocke Verwandlungstheater findet in unserer Mitte statt. Denn letztlich, so bedeutet uns die Inszenierung, sind auch die Götter in ihren Liebeswünschen so bedürftig und verletzlich wie wir.