Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (01.06.2010)
Antonín Dvořáks «Rusalka» im Opernhaus Zürich
Für eine Oper ist es eine paradoxe Situation: Die Nixe Rusalka, die sich in einen Prinzen verliebt hat, will Mensch werden, um sich mit ihm vereinen zu können. Die Hexe Ježibaba erfüllt ihren Wunsch, doch um den Preis, dass Rusalka die Sprache verliert. So kommt es, dass die Titelfigur von Antonín Dvořáks lyrischem Märchen und ihr Geliebter singend erst am Schluss der Oper, als Rusalka dem treulos Gewordenen den Todeskuss gibt, zusammenfinden. – Der Sprachverlust ist ein mehrdeutiges Symbol, er kann für die Absolutheit einer Liebe stehen, die der Worte nicht bedarf, aber auch für das Ausgesetztsein in einer fremden Welt. Matthias Hartmann, der Regisseur der Neuinszenierung im Zürcher Opernhaus, gibt sich mit einer banaleren Lesart zufrieden. Ihn erinnert die Nixe an jene weiblichen Fans von Pop-Stars, die, wenn sie ihren Idolen gegenüberstehen, verstummen. (Dieser Assoziation verdankt sich wohl auch, dass Rusalka in der Zürcher Aufführung eine Doppelgängerin in Gestalt eines Mädchens erhält.)
Das vage und beliebige Konzept Hartmanns erhält aber zum Glück einen sinnstiftenden Überbau durch Karl-Ernst Herrmanns Bühne. Der grosse Ästhet unter den Szenografen orientiert sich bei seiner ersten Arbeit im Zürcher Opernhaus am Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation und setzt diesen in einfache, klar lesbare Bildchiffren um. Ein Feld blauer Blumen steht zu Beginn anstelle des Sees für die unberührte Welt der Nymphen und Waldgeister. Doch beim Erscheinen des Prinzen wird am Horizont eine Grossstadt sichtbar, und bereits spannen sich Kabel einer Hochspannungsleitung über den Lebensraum der Naturwesen. Ein riesiger Kronleuchter in einem nur durch Leuchtstäbe markierten Raum genügt, um der Festszene im zweiten Akt, in welcher der Prinz den Reizen der fremden Fürstin erliegt, kalten Glanz zu verleihen. Im dritten Akt ist das Blumenfeld verdorrt, die drei Waldelfen – das stimmlich exquisite Trio Sandra Trattnigg, Anja Schlosser und Katharina Peetz – tummeln sich auf einer Mülldeponie, der Wassermann taucht ölverschmiert aus der Tiefe auf, die Zivilisation hat die Natur entzaubert und zerstört, auch Rusalka als deren reinste Verkörperung: Im Märchen, das Dvořáks Textdichter Jaroslav Kvapil aus verschiedenen Vorlagen kompiliert hat, wird sie zum Irrlicht, in Hartmanns Inszenierung zu einer Unbehausten, die sich mit ihren Plasticsäcken neben einen Hydranten legt.
Bei aller Nüchternheit gibt es in der Zürcher Neuproduktion allerdings auch theatralisch inspirierte Momente. Wie die Hexe – die mit einem gewaltigen Buckel und heller Mezzo-Stimme mehr grotesk als unheimlich wirkende Liliana Nikiteanu – Rusalkas Fischleib häutet, wie der Heger (Miroslav Christoff) und der zur Event-Managerin avancierte Küchenjunge (Eva Liebau mit ihrem schwebend leichten Sopran) während der Vorbereitungen zum Fest vor dem Vorhang die sonderbaren Vorgänge im Schloss kommentieren, das ist originell und witzig gemacht. Und Victoria Behr belebt die Bilder zudem mit phantasievollen, stilistisch bunt gemischten Kostümen. Eindeutig nicht Hartmanns Domäne ist dagegen die Bewegungsregie. Das zeigt sich mehr noch als in der Führung der Solisten in der Gestaltung der Chorszene des Mittelaktes. Das Ballett ist hier auf einen Solotänzer (Ádamo Dias) konzentriert, der in Ismael Ivos Choreografie eine Art männliches Pendant Rusalkas verkörpert. Dramaturgisch plausibel wird dieser Einfall nicht.
Dass der Zauber von Dvořáks Märchenoper mit ihrer charakteristischen Mischung von romantischer Emphase, schlichter Liedhaftigkeit und arioser Melodik auch in dieser szenisch unterkühlten Einstudierung wirksam wird, verdankt sich der musikalischen Wiedergabe. Mag das Orchester unter Vladimir Fedoseyevs Leitung auch nicht immer letzte Präzision und Geschmeidigkeit erzielen, so lässt es die Musik doch wunderbar klangsatt strömen und die Sänger atmen. Piotr Beczala gibt dem Prinzen allen Schmelz seines strahlenden, biegsamen Tenors, auch wenn ihn die Spitzentöne etwas mehr Anstrengung zu kosten scheinen als bei der Salzburger Produktion von 2008. Michelle Breedt lässt als fremde Fürstin ihren satten Mezzosopran verführerisch funkeln, und Alfred Muff ist ein Wassermann, dessen sonorer Bass bald gemütvoll, bald bedrohlich, bald schmerzerfüllt klingt. Sie alle aber überstrahlt der grossartige Sopran Krassimira Stoyanovas: eine Stimme voller Wärme und Ausdruckskraft, dabei zart und leicht im Ansatz, unfehlbar intonationsrein, sich verströmend in einem frei schwingenden Vibrato. Und dazu erweist sich die bulgarische Sängerin bei ihrem Rusalka-Début auch als sensible, gerade in ihrer Schlichtheit beredte Darstellerin. Eine Idealbesetzung! Wie konnte der Komponist nur zulassen, dass dieses sein Geschöpf verstummen muss, um Mensch zu werden?