Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (08.05.2006)
Für jene Zuschauer, die es schafften, sich ganz auf die „Don Giovanni“-Produktion einzulassen und „Altes“ abzustreifen, war die gestrige Premiere bestes Musiktheater. Obwohl der Schlussapplaus ziemlich begeistert ausfiel, gelangte man doch aus Gesprächsfetzen der Premierenbesucher zum Schluss, dass dieses Sich-Einlassen vielen etliche Mühe bereitete.
Das Opernhaus-Orchester war unter seinem GMD Franz Welser-Möst wieder einmal in Höchstform. Leicht spielte es auf, spritzig, mit samtenem Klang, transparent, sinnlich. Der Einsatz des Hammerklaviers anstelle des Cembalos in den Rezitativen rundete den Klang vorzüglich ab. Bisweilen hatte man das Gefühl, einen „neuen“ Don Giovanni zu hören. Das mochte auch von den eher ungewohnten Tempi herrühren. Ich habe z.B. die Register-Arie noch nie so lyrisch gehört. Sie gewinnt jedoch dadurch meines Erachtens unglaublich an Intensität.
Diese Transparenz und Spielfreude passte perfekt zur Inszenierung von Sven Erik Bechtolf. Sein Don Giovanni ist kein arroganter Schnösel, der aus blosser Berechnung und Triebhaftigkeit alle Frauen verführt, sondern ein lebensfroher Mann, der nie erwachsen wurde, ein „grosses Kind“, das mit grosser Spiellust das tut, was es gerne tun möchte und sich der Folgen nicht wirklich bewusst ist. Es versucht, Grenzen auszuloten – und wenn ihm etwas nicht passt, dann „stampft es und wird wütend“. Durch seine Lebensfreude wirkt Don Giovanni sympathisch, und es lässt sich nun durchaus verstehen, warum er bei den Frauen leichtes Spiel hat. Simon Keenlyside verkörpert diesen virilen, körperlichen Don Giovanni mit unglaublich viel Schalk, Verspieltheit, Ungezwungenheit und Charisma, sowohl interpretatorisch wie auch musikalisch. Seinem sicher geführten, warmen Bariton entlockt er alle Facetten, ist überaus textverständlich und vermag sowohl die leisesten, verführerischen Töne wie auch die dramatischen Ausbrüche spielend zu bewältigen.
Die Figur der Donna Anna war für mich in all jenen Inszenierungen, die ich bisher gesehen habe, nicht schlüssig. Zu konfus erschien mir ihr Verhalten. Bechtolf zeigt hier nun eine Frau, die sich auf Don Giovanni eingelassen hat, die ihn liebt, aber zwischen Konvention, Gewissensbissen (weil sie sich für den Tod ihres Vaters verantwortlich fühlt) und Leidenschaft hin und her gerissen ist. Bis ganz zum Schluss kann sie sich Don Giovannis Zauber nicht entziehen. Diese Ambivalenz der Gefühle wird magistral gezeigt. Sängerisch vermochte Eva Mei (noch) nicht vollumfänglich zu überzeugen, die Höhen waren bisweilen eng und die Stimmfarben etwas monochrom. Die Figur verkörperte sie jedoch bis ins kleinste Detail perfekt.
Normalerweise mag ich Donna Elvira nicht wirklich, sie wird vielfach als hysterische Zicke gezeichnet (ich denke da mit Grauen an die Donna Elvira von Cecilia Bartoli in der Flimm’schen Inszenierung zurück), die von einem hohen Mezzo oder einem dramatischen Sopran verkörpert wird. Bei Bechtolf ist sie eine zutiefst verletzte, immer wieder verzeihende, liebende Frau. Malin Hartelius mag nicht jedermanns Sache in dieser Rolle sein, da sie ein ausgesprochen lyrischer Sopran ist und über eine leichte Stimme verfügt. In jedem anderen Haus und mit einem anderen („lauteren“) Dirigat würde sie wohl untergehen. Aber obwohl mich ihr Vibrato bisweilen störte, empfand ich ihre Darbietung als sehr anrührend, bewegend und absolut gelungen. Erschütternd ist sie in der Szene, als sie realisiert, dass sie von Leporello hintergangen worden ist, der sich als Don Giovanni ausgab. Das geht wirklich unter die Haut!
Der ergraute Don Ottavio von Piotr Beczala ist ein Mann, auf den sich alle verlassen können, pflichtbewusst, liebend bis zur Selbstaufgabe, aber wohl doch etwas zu berechenbar, um eine Frau – welche Don Giovanni kennen gelernt hat – zu faszinieren. Wunderschön gestaltetete Beczala seine beiden Arien. Die Verzierungen, mit welchen er „Dalla sua pace“ schmückte, vermittelten ein völlig neues Hörgefühl. Puristen mögen Beczalas gelegentliche Schluchzer bemängeln; mich stören diese überhaupt nicht - auch wenn ich vielleicht eine Interpretation à la Michael Schade schlussendlich doch vorziehen würde. Aber Beczala verfügt über eine solch schöne Stimme, dass man dies leichten Herzens verschmerzen kann.
Bezaubernd ist die Zerlina von Martina Janková, die eine quicklebendige, fröhliche, spritzige und auch anrührende Braut abgab und keinerlei stimmlichen Mängel aufwies. Nebst Keenlyside sicher die Gewinnerin des Abends. Ihr Ehemann, Masetto, wurde von Reinhard Mayr ebenfalls bestens verkörpert. Ein aufbrausender, viriler, junger Mann, der den stimmlichen Anforderungen voll gerecht wurde. Es ist erfreulich, was für eine konstante Leistungssteigerung dieser Sänger von Oper zu Oper vollbringt.
Alfred Muff vervollständigt mit seinem sonoren Bass als Komtur die vom Publikum umjubelten Sängerleistungen, während Anton Scharingers Leporello gegenüber Don Giovanni etwas blass blieb. Allerdings wirkte er darum umso schleimiger, hinterhältiger, kriecherischer und heuchlerischer. Eine Person, die gerne das „Format“ ihres Meisters hätte, dieses aber nie erreicht und nur auf ihre eigenen Kosten kommen will. Bisher hatte ich durchaus Sympathien für diese Figur; erst in dieser Inszenierung ist mir die Niederträchtigkeit Leporellos aufgegangen.
Dies ist ein grosses Verdienst von Bechtolf, der mit viel Liebe fürs Detail die Personen zeichnet und führt. Seine Inszenierung – in einem wieder einmal wunderschön ästhetischen Bühnenbild von Rolf Glittenberg mit tollen Kostümen von Marianne Glittenberg – erzählt, deutet jedoch wenig. Das reicht vollauf, um einen vergnüglichen und spannenden Abend zu erleben. Die mittels Tänzern versinnbildlichten inneren Räume der jeweiligen Protagonisten waren meiner Ansicht nach manchmal etwas zu viel des Guten. Manchen Besuchern war die Sichtweise Bechtolfs zu realistisch, und sie vermissten z.B. die Höllenfahrt Don Giovannis. Mir selbst hat mit diesen tollen Sängerdarstellern gar nichts gefehlt; im Gegenteil – viele neue Aspekte in der Musik und im Libretto sind mir erst hier aufgefallen. Sicher kann man sich darüber streiten, ob der „steinerne Gast“ wirklich nur eine afrikanische Tischstatue sein soll, ob Voodoo dazu gehört oder nicht. Die ganze Produktion war jedoch in sich schlüssig und stimmig.
Als bestechend empfand ich den Schluss mit dieser für mich unsäglichen Moral „Questo è il fin di chi fa mal“ (die eigentlich gar nicht zum Stück passt). Wie von Zauberhand stehen Päckchen auf dem Tisch: Geschenke für jeden der verbleibenden Protagonisten. Sie machen sich alle daran, diese zu öffnen, und es kommen silberne Gegenstände hervor, die ihre Zukunft verkörpern. Einzig Donna Anna macht ihres nicht auf, sondern legt es auf den Stuhl, auf welchem Don Giovanni sein Schicksal ereilte, während Don Ottavio desillusioniert auf sein Geschenk starrt: eine Armbanduhr!
Fazit: ein durchaus gelungener Abend, sowohl musikalisch wie szenisch, mit einem überragenden Simon Keenlyside, auch wenn es – im Gegensatz zu etwa "Pelléas et Mélisande" – vielleicht nicht Bechtolfs Meisterstück gewesen ist.