Gute Natur, böse Zivilisation

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (01.06.2010)

Rusalka, 30.05.2010, Zürich

Die Ölkatastrophe ist auch im Zürcher Opernhaus angekommen: Dank Antonín Dvoraks «Rusalka» und dem Regisseur Matthias Hartmann.

Als Matthias Hartmann 2003 im Zürcher Opernhaus Smetanas «Verkaufte Braut» inszenierte, war er eben erst als Direktor des Zürcher Schauspielhauses gewählt worden, und die ebenso multimediale wie originelle Aufführung war eine vielversprechende Visitenkarte. In Macht und Würden hat er dann 2008 mit einer «Carmen» gezeigt, dass er mit Protagonisten mehr anzufangen weiss als mit einem Chor. Und nun, bereits wieder als Ex-Direktor, zeigt er mit Dvoraks «Rusalka» die zweite tschechische Nationaloper – und Nostalgie nach seiner Zürcher Zeit mag sich keine breitmachen.

Viele haben vor und nach Dvorak die Geschichte der Nixe erzählt, die aus Liebe zu einem Prinzen zum Menschen werden will: der Märchenautor Hans Christian Andersen, Schriftsteller von Friedrich de la Motte Fouqué bis zu Ingeborg Bachmann, Komponisten wie Albert Lortzing und Hans Werner Henze, und natürlich die Disney Productions. Kaum je geht die Geschichte glücklich aus, meist endet sie tödlich, und dass es in der «Rusalka» nicht gut kommt, zeigt nun in Zürich schon das Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann: Über einem blauen Blütenmeer spannen sich Telefondrähte, im Hintergrund leuchtet das nächtliche Prag.

«Leerstellen» überbrücken

Wunderschön sieht das aus, Herrmann wird bei seiner ersten Zürcher Arbeit seinem Ruf als Bühnenzauberer eindrücklich gerecht. Gleichzeitig ist in diesem Bild etwas simpel angelegt, was Hartmann als Kernaussage des Stücks herausgeschält hat: Natur und Zivilisation passen nicht zusammen. Und die Zivilisation ist böse, sehr böse.

Man sieht es, wenn Rusalka im zweiten Akt in der Menschenwelt ankommt. Ihre Hochzeit mit dem Prinzen soll gefeiert werden, und Kostümbildnerin Victoria Behr hat sich redlich und erfolgreich bemüht, die Dekadenz am Hof des Prinzen in den Ballgewändern seiner Gäste zu verewigen. Es glitzert und glänzt, die Perückenmacher konnten zeigen, was sie draufhaben, und den Orthopäden im Publikum dürfte es ebenso übel geworden sein wie den Partygästen auf der Bühne, die sich gerne ins Blumenmeer im Hintergrund übergeben.

Es gelte in diesem zweiten Akt, «gewisse musikalisch-dramaturgische ‹Leerstellen› zu überbrücken», schreibt Matthias Hartmann im Programmheft. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Dramaturgisch mag wenig geschehen hier – was allerdings auch der Einsatz eines überaus gelenkigen Halbnackttänzers (Adamo Dias in der Choreografie von Ismael Ivo) nicht ändert. Aber musikalisch wäre doch einiges los, worauf ein Regisseur hören könnte.

Zumal es ihm Vladimir Fedoseyev nicht schwermacht. Der russische Dirigent hat einen Sinn fürs Plakative, der Dvoraks Musik durchaus entgegenkommt. Die Naturmotive sind nicht zu überhören, die drohenden Bässe auch nicht. Zwar gelingt die klangliche Verschmelzung im Orchester der Oper und zwischen Orchester und Bühne nicht immer; aber das wird durch intensive Stimmungsbilder – zu denen auch der von Jürg Hämmerli vorbereitete Chor viel beiträgt – durchaus wettgemacht.

Unheimliche Fremdheit

Intensität und dazu jede Menge Zwischentöne bieten auch die Protagonisten. Krassimira Stoyanova gibt keine ätherische Rusalka, ihr Timbre kann durchaus herb sein; aber dass diese Nixe sich nach einer Seele sehnt, nimmt man ihr schon beim ersten Ton ab (und auch ihr Schweigen ist beseelt). Umgekehrt zeigt der Prinz in der lyrischen, gefühlvollen Stimme von Piotr Beczala mehr Seele, als man sie einem Verräter zutrauen würde: Nicht nur seine Flatterhaftigkeit treibt ihn weg von Rusalka und hin zum üppigen Sopran von Michelle Breedts Fürstin. Es ist das Unverständnis, das unheimliche Gefühl der Fremdheit – das weiss Beczala eindrücklich darzustellen.

Wer ist gut, wer ist böse? Im Werk sind die Antworten weniger eindeutig als auf der Bühne. Die Hexe Jezibaba etwa, die Rusalka zum Menschen werden lässt, handelt (anders als bei Disney) nicht nur aus Bosheit; in Zürich allerdings graut es einen vor der Erscheinung, die Rusalka bis fast zuletzt als «liebes Tantchen» bezeichnet. Rotes Kostüm, riesiger Buckel, weisse Kontaktlinsen, reptilienhafte Bewegungen: Liliana Nikiteanu hat ein Monster zu geben, und dass ihre Stimme lebendig bleibt dabei, ist wirklich hohe Kunst.

Immerhin, Leerstellen gibt es tatsächlich keine, das Publikum kann sich getrost auf die Fantasie des Regisseurs verlassen. Es kann sich amüsieren über Eva Liebau, die als charmante Umdeutung des Küchenjungen für vokales Glitzern und eine hochvirtuose Flucht auf High Heels sorgt. Es kann besorgt die Stirn runzeln, wenn Alfred Muff im Namen der Aktualität als ölverschmierter Wassermann sein «Wehe, wehe» singt. Und es kann nicken, wenn Rusalka, die nach dem Verrat des Prinzen weder Nixe noch Mensch sein kann, in einer zivilisationskritischen Deutung der zeitlosen Geschichte zur Obdachlosen wird.

Aus dem Müll, den Karl-Ernst Herrmann auf der Bühne drapiert hat, sucht sie sich einen Regenmantel heraus, ihre Tragtaschen deponiert sie bei einem Hydranten – dem einzigen Hinweis auf die Wasserwelt. Ihr Seelchen, das hat man während der Ouvertüre gesehen, wird dann in Form eines Mädchenkleides gen Himmel schweben: doch noch eine Art Happy End.